Das Gleiche sagen aber nicht Dasselbe meinen? Ein Versuch der Erläuterung allgemeiner Förderung in Abgrenzung zu sonderpädagogischer Förderung in ES am Beispiel kooperativer Kompetenzen

von Alexander Lang

Gleiches tun aber nicht Dasselbe machen?

Im Zuge der ersten umfassenden Untersuchung zu ‚Kompetenzen in inklusiven setting‘ (KIS) - Vorarbeiten zu einem Kompetenzstrukturmodell sonderpädagogischer Lehrkräfte wird in Form einer visualisierten Darstellung eines „Kompetenzstrukturmodell inklusive settings“ (Moser, Kropp 2014, S. 26) skizziert, wie sich die Arbeitsaufgaben im Gemeinsamen Lernen von sonderpädagogischen und allgemeinpädagogischen Lehrkräften verteilen. Nicht sehr überraschend sind in den Dimensionen Klassenunterricht und Individuelle Förderung die deutlichsten Verteilungsunterschiede zu erkennen (die sich möglicherweise aus der bisher tradierten Form schulischer Inklusion erklären lassen, die Lehrkraft der allgemeinen Pädagogik unterrichtet tendenziell mehr die gesamte Klasse, die sonderpädagogische Lehrkraft unterrichtet tendenziell individualisierter in Kleingruppen außerhalb des Klassenraums und weniger fachwissenschaftlicher zu erklären sein könnten). In allen anderen Dimensionen (Beratung, Diagnostik, Kooperation schulintern und -extern) gibt es nahezu ein Gleichverteilung.

Machen ES-Lehrkräfte der Sonderpädagogik und der Allgemeinen Pädagogik Gleiches aber nicht Dasselbe?

Analog hierzu können auch gemeinsam genutzte Begriffe wie „Förderung“ hinterfragt werden: Verstehen Lehrkräfte der Allgemeinen Lehrämter unter Förderung Dasselbe, was sonderpädagogische ES-Lehrkräfte unter sonderpädagogischer Förderung verstehen?

Professionstheoretische Erkenntnisse lassen Deutungen in diese Richtung zu: Sonderpädagogische Lehrkräfte verstehen beispielsweise unter dem Begriff Fachwissen etwas anderes als Lehrkräfte aus der Allgemeinen Pädagogik: „Lehrende im Förderschulbereich verstehen „Fachwissen“ eher als pädagogisches und psychologisches Wissen, das v. a. aus diagnostischen Kenntnissen besteht und insgesamt ein pädagogisches Handlungsrepertoire abbildet. Es wird auch als Wissen um sozialkompetentes Verhalten gelabelt.“ (Weiß, Kollmannsberger und Kiel, 2014, S. 182). Bereits Studierende sonderpädagogischer Lehrämter scheinen über andere „Beliefs“ zu verfügen als Studierende von allgemeinpädagogischen Lehrämtern, legt eine empirische Studie Mosers, Kuhls, Schäfers und Redlichs nahe. Die Auto*innen führen einleitend aus, dass Beliefs als Merkmal einzelner Professioneller bei der Gestaltung von Unterricht sowie der Nutzung didaktischer Konzepte eine moderierende Rolle einnehmen. Ob sie auch konstituierend für die Profession sind, gilt es noch weiter zu untersuchen (vgl. ebd., S.3).

Beide Veröffentlichungen führen für mich zur These, dass Lehrkräfte der Allgemeinen Pädagogik und der ES-Sonderpädagogik bei gleichem Tun Verschiedenes intendieren.

Regelmäßig begegnet mir in sonderpädagogischen Unterrichtsplanungen der Fachrichtung Emotionale und soziale Entwicklung und der Durchführung sonderpädagogischen Unterrichts der überfachliche Bereich „Kooperation“ als Zielgegenstand sonderpädagogischer Förderung (sowohl im Kontext Inklusion oder Förderschule ES) Ich meine, dass dieser Zielbereich kooperativer Kompetenzen sich eignet, um auszuführen, das das Gleiche meinen nicht Dasselbe tun bedeutet, hier am Gegenstand des Verständnisses von „Förderung“ von Kooperation und sonderpädagogischer Förderung ES des Förderaspektes Kooperation im Sinne kooperativer Kompetenzen.

Im Schulgesetz NRW wird unter dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule u. a. formuliert, dass Schüleri:innen lernen sollen „für sich und gemeinsam mit anderen (zu) lernen und Leistungen zu erbringen“ (§2, Absatz 6, Satz 2) womit Kooperation als Querschnittsaufgabe allen schulischen und unterrichtlichen Handelns verstanden werden kann. Auf einer grundlegenden Ebene 1 (siehe Abbildung „Verständnisse von Kooperation im Kontext Schule/Unterricht“ kann kooperatives Handeln als Sozialform verstanden werden, wie es Kersten Reich im konstruktivistischen Methodenpool beschreibt: „Gruppenarbeit ist weder eine pädagogische Wunderwaffe noch eine Methode, die immer dann eingesetzt werden kann, wenn alles andere zu eintönig erscheint. Gruppenarbeit ist vielmehr eine Sozialform, die bei geschickter Eingliederung in den Unterricht zu gesteigertem Lernerfolg unter den SchülerInnen führen kann. (…).“ Dieses Verständnis von kooperativem Handeln teilen die Allgemeine Pädagogik und Sonderpädagogik des Förderschwerpunktes ES.

Kooperatives Lernen auf Ebene 2, mit besonderem Augenmerk auf den Prozess des kooperativen Handelns im Kontext Unterricht, (z. B. im Verständnis von Weidner oder auch von Qualis NRW) geht über die reine Sozialform Gruppenarbeit hinaus. Im Klappentext des Buches von Weidner wird wie folgt formuliert: Immer wieder werden heute in den verschiedensten Arbeitszusammenhängen Kompetenzen zum erfolgreichen Umgang in Kleingruppen verlangt. Team- oder Gruppenfähigkeit ist zu einer vielzitierten Schlüsselqualifikation geworden, die die Wirtschaft unmissverständlich einfordert. Dagegen wurden die Schüler/innen jahrzehntelang zu Einzelkämpfern, oft auch zu Konkurrenten, herangebildet. Dieses Prinzip kann keinerlei Bestand mehr haben, wenn die Schule wirklich auf das Studium, den Berufseintritt und das "Leben draußen" vorbereiten möchte. So zeigt dieses Buch in anschaulicher Weise einen gangbaren Weg zu sinnmachendem, eigenverantwortlichem und ganzheitlichem Lernen (…).“ Neben dem Agieren in einer kooperativen Sozialform können durch Kooperatives Lernen auch Kompetenzen weiter ausdifferenziert werden. Ab hier kann bereits von „Förderung“ von Kooperation ausgegangen werden; unspezifisch und ohne eingegrenzte Zielgruppe, denn Adressaten sind „alle Schülerinnen und Schüler“.

Die Begrifflichkeit „Förderung“ soll an dieser Stelle nicht weitergehend analysiert werden; in diesem Kontext von Ebene 2 passt vermutlich Förderung bedeutet eine helfende Unterstützung zwecks Entwicklung“ (vgl. Greving, H. u. Ondracek P., 2005 nach Breitenbach). Breitenbachs Generalabrechnung mit der Unschärfe und dem mangelnden pädagogischen Hintergrund des Begriffs „Förderung“ sei in diesem Kontext allerdings doch als eine absolute Leseempfehlung erwähnt, insbesondere auch, um den teilweise unreflektierten sonderpädagogischen Sprachgebrauch „Förderung“ kritisch hinterfragen zu können, wie ich nachfolgend noch zu Ebene 4 ausführen werde.

Ebene 3 verorte ich weiterhin im o. g. Verständnis von Förderung. Nun allerdings systematischer und häufig auch mit einer besonderen Intention. Ebene 1 und Ebene 2 unterliegen der Prämisse der Sekundärsozialisation in der Institution Schule und Ebene 2 kann sicherlich auch als generalpräventives Agieren im Hinblick auf kooperative Kompetenzausprägungen verstanden werden. Auf Ebene 3 geraten bereits junge Menschen ins Visier von Förderung, die möglicherweise aufgrund von vermuteten Schwierigkeiten im Sozialverhalten an Trainings zum Sozialverhalten teilnehmen (müssen?): Es gibt vielerlei „Trainings“ mit der Zielgruppe Schüler:innen auf dem Markt, die häufig auch Intendieren, „die Kooperationsbereitschaft“ zu fördern. Beispielhaft sei an dieser Stelle das Sozialtraining in der Schule nach Petermann et al. benannt. Im Unterschied zu den beiden vorherigen Ebenen wird als Hilfsdisziplin deutlich auf die  Klinische Kinderpsychologie oder entwicklungspsychologische Erkenntnisse rekurriert und z. B. der Zielbereich „Soziale Fertigkeiten“ fachlich tief dargestellt: Soziale Fertigkeiten sind erforderlich, um das Zusammenleben in unterschiedlichen sozialen Kontexten angemessen und für alle Beteiligten positiv zu gestalten. Voraussetzung dafür ist eine differenzierte soziale Wahrnehmung, eine komplexe soziale Urteilsfähigkeit und ein umfassendes Repertoire an sozialen Handlungsweisen. Soziale Fertigkeiten beziehen sich demnach darauf, in einer sozialen Interaktion effektiv handeln zu können. Dies schließt ein, eigene Ziele zu erreichen und gleichzeitig positive Beziehungen über die Zeit und über verschiedene Situationen hinweg aufrechtzuerhalten“ (ebd., S. 28).

Ebene 4 weist ein Verständnis von „Förderung“ nun als sonderpädagogische Förderung aus. Wie lässt ich zu den anderen Ebenen eine tragfähige Abgrenzung begründen? Und was können ES-Lehrkräfte unter „sonderpädagogischer Förderung in ES“ verstehen? Insbesondere lässt sich sonderpädagogische Förderung als ein Entwicklungen und Lernprozesse initiierenden Prozess im überfachlichen (nicht fachlich-curricularen Bereich der Allgemeinen Pädagogik und der Unterrichtsfächer) Bereich („Entwicklungsziele“) beschreiben. Dieser Prozess folgt in ES noch dazu einem immer gleichartigen Prozess, den ich im Folgenden beschreiben möchte:

Eine erste Antwort liefern die KMK-Empfehlungen des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes Emotionale und soziale Entwicklung, indem dort auf S. 4 wie folgt vorgegeben wird: „Die sonderpädagogische Förderung ist in erster Linie auf die Weiterentwicklung der Fähigkeiten zu emotionalem Erleben und sozialem Handeln gerichtet.“ Was unter Fähigkeiten zu sozialem Handeln alles subsummiert werden kann, wurde bereits auf Ebene 3 angerissen; ES rekurriert hier stark auf seine Hilfswissenschaften Entwicklungspsychologie und andere Teilbereiche der Psychologie (z. B. heute auch vermehrt der Kognitionspsychologie und der beschriebenen Fähigkeit des Mentalisierens, der Theory of mind, häufig aber auch auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychopathologie, um besser zu verstehen, wie von der „Normalentwicklung“ abweichende Entwicklungsverläufe sich vollziehen).

Sind kooperative Kompetenzen als Zielgegenstand sonderpädagogischer Förderung formuliert,  intendiert sonderpädagogische Förderung in ES klassischerweise den systematischen Aufbau kooperativer (Teil-) Kompetenzen im Kontext Unterricht oder Schule (sonderpädagogische Förderung in ES findet natürlich nicht nur im Unterricht, sondern sehr häufig in den darüber hinaus existierenden schulischen Kontexten statt). Unterschiedliche sonderpädagogische Ansätze beschreiben (didaktische) Förderprozessabläufe, denen im Kontext Unterricht zumeist eine Art „didaktischer Dreischritt“ zu Grunde liegt und große Ähnlichkeiten zur klassischen Sachanalyse und Zielherleitung von Unterricht aufweist aber doch weit darüber hinaus geht:

  1. Schritt: Theoretische Darlegung eines theoriegeleiteten Bezugssystems (hier die theoriegeleitete Durchdringung des Phänomens kooperativer Kompetenzen im Sinne sozial-emotional kompetenten Handelns und der Fragestellung, als was kooperative Kompetenzen verstanden werden können, der Aufgabe, eine kompetenzorientiertes Modell kooperativer Kompetenzen zu erstellen und auch der entwicklungspsychologischen Frage nachzugehen, wie sich die Ontogenese kooperativen Agierens beim Menschen (hier: bei Kindern und Jugendlichen) beschreiben lässt, um Rückschlüsse auf das spätere Vorgehen im Förderprozess ziehen zu können, bzw. auch, um besser verstehen zu können, warum sichtbare Entwicklungen (im Sinne von „Erfolg“) häufig nicht zeitnah, sonder eher mittel- bis langfristig zu erwarten sind. Häufig sind an dieser Stelle mehrere, teilweise konkurrierende oder sich widersprechende theoretische Modelle zu finden; dies gilt es kritisch zu reflektieren und sich für eine Denkrichtung zu entscheiden.
  2. Schritt: "Sonderpädagogische Diagnostik" umschreibt den Prozess des Erkennens und Beschreibens ("Diagnostizierens") von individuellen Ressourcen und Lernbarrieren einzelner SuS vor dem Hintergrund eines jeweilig bewusst gewählten theoretischen Bezugssystems (1. Schritt). Nach Breitenbach geschieht dies in hypothetischer Art und Weise, d. h. wir vermuten lediglich auf Grundlage eigener (oder im Team) gewonnener Beobachtungen oder ergänzender diagnostischer Erkenntnisse individuelle Lernvoraussetzungen in Hinsicht auf kooperative Kompetenzen und arbeiten im sonderpädagogischen Förderprozess mit doppelter Hypothesenbildung und anschließenden Verifizierung oder Falsifizierung sonderpädagogischer Förderangebote.
  3. Schritt: Nun lassen sich im Sinne einer Zone der proximalen Entwicklung individuelle (Entwicklungs-) Ziele herleiten, die in einem dialogischen Förderprozess mit den SuS nun gemeinsam im Kontext Unterricht/Schule verfolgt werden und auf eine kurz-, mittel- oder langfristige (Teil-) Erreichung auch überprüft werden können (indem grobe Sinnabschnitte in individuellen Förderplänen dokumentiert werden).

Die Adressaten sonderpädagogischer Förderung in ES sind im Kontext Inklusion keinesfalls alle Schüler:innen, sondern zunächst diejenigen Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in Emotionaler und sozialer Entwicklung. In NRW gibt die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung, AO-SF vor, wie sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf festgestellt wird und welche Besonderheiten und Bildungsgänge einzuhalten und umzusetzen sind. Grundsätzlich erscheint sonderpädagogische Förderung als subsidiäre Leistung im vielfältig aufgefächterten deutschen Schulsystem. Für ES heißt es unter §4, Abs. 4, AO-SF: „Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (Erziehungsschwierigkeit) besteht, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.“

Arbeiten Schulamtsbezirke oder schulische Institutionen nach dem RTI-Modell oder angelehnt daran, können im Gemeinsamen Lernen auch Schüler:innen ohne formale Feststellungsverfahren an sonderpädagogischer Förderung partizipieren (lt. RTI-Modell dann auf einer selektiven Ebene).

Folgende Abbildung stellt zusammenfassend die o. g. Ausführungen dar:

Modellhafte Darstellung von 4 Ebenen von Förderung bis sonderpädagogischer Förderung

Grundsätzlich erscheint mir sonderpädagogische Förderung in ES noch vielschichtiger, als dass ich sie rein auf das oben beschriebene Fixieren auf den überfachlichen Bereich reduzieren möchte. Der Frage, was alles sonderpädagogische Förderung in ES zu sein vermag, gehe ich in diesem Blog-Artikel nach.

Im letzten Abschnitt dieses Beitrages möchte ich anhand des Beispiels Kooperative Kompetenzen die theoretische Tiefe einer „sonderpädagogischen Sachanalyse“ im Sinne einer didaktischen Durchdringung des überfachlichen Bereichs (Schritt 1 des „Didaktischen Dreischritts“) darstellen.

Warum und wie handeln Menschen kooperativ?

Wichtig erschein mit zunächst, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie sich kooperatives Handeln ontogenetisch beim Menschen und vor allem bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Da man es im Kontext sonderpädagogischen Unterrichts, bzw. sonderpädagogischer Unterrichtsplanung im überfachlichen Bereich zusätzlich zu den komplexen Unterrichtsprozessen zu tun hat, erscheint es mir anschließend logisch, im Sinne einer Komplexitätsreduktion sich modellhafte Bezüge zu den Hilfswissenschaften zu erschaffen oder bereits bestehende modellhafte Darstellungen für die eigene Weiterverarbeitung zu nutzen. Für den Bereich „Kooperation“ greife ich weiter unten auf das „Lernfeld Kooperation“ von Schäfer zurück. Abschließend erläutere ich kurz als Ausblick eine Möglichkeit, sonderpädagogische Förderung in ES entwicklungspsychologisch zu fundieren, ohne auf Kompetenzmodelle zurückzugreifen; charmant daran erscheint mir, dass auf diese Art und Weise glaubhafter die in Anspruch genommene sonderpädagogische Ressourcenorientierung zur Geltung kommen und darauf verzichtet werden kann, durch den Prozess sonderpädagogischer Diagnostik einen „das-Glas-ist-halb-voll-Blick“ zu verstärken (und somit unterschwellig zu intendieren, dass SuS mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES „Mangelwesen“ seien, die durch sonderpädagogische Förderung in ES „verbessert“ oder „geheilt“ würden, um schließlich besser zu funktionieren. Willmann spricht in diesem Kontext gar von der Notwendigkeit einer De-Psychologisierung und De-Medizinalisierung der Sonderpädagogik in ES (vgl. Willmann 2012). Walbert und Lang sprechen in diesem Kontext davon, dass sonderpädagogischer Unterricht das Lehr-Lernangebot und Erziehungsprozesse entstören sollte – nicht den Menschen (vgl., S. 25, 2021).

Kooperieren, gemeinsam Agieren, Zusammensein und gemeinschaftlich das Leben verbringen ist tief in uns Menschen angelegt. Als dem menschlichen Leben immanent lässt sich wohl behaupten, dass Menschen ohne Gruppenbezüge nicht (über)leben könnten. Tomassello stellt fest, dass nur weniger Menschen ohne kulturelle Gruppe, die bereits über die relevanten sozialen Praktiken und Artefakte verfügt, in ihrer Umwelt leben könnten (vgl. 2012, S. 9). Menschheitsgeschichte beruht laut ihm regelrecht darauf, dass Individuen Artefakte oder Vorgehensweise erfinden oder erstmalig erfolgreich einsetzen/nutzen und andere (insbesondere Kinder) dies in kürzester Zeit ebenfalls erlernen/übernehmen und verbessern. Menschen sind auf der Erde einzigartig in der Fähigkeit, Verhaltensweisen und Dinge zu akkumulieren und sie so immer komplexer werden zu lassen und dieses Können und Wissen über Generationen weiterzugeben. Verhaltensweisen als Ausdruck menschlicher Kultur können in ihrer Komplexität als soziale Institutionen verstanden werden; sie bestehen aus einer Reihe von Verhaltensweisen, wechselseitig anerkannten Regeln und Normen und schaffen kulturell definierte Rollen (vgl. ebd., S. 10).

Bratman et al. beschreiben das menschliche Kooperieren als die Fähigkeit zur geteilten Intentionalität. Hiermit ist gemeint, dass wir mit anderen gemeinsame Absichten verfolgen und hierzu Verpflichtungen eingehen können. In diesem Prozess müssen wir in der Lage sein, gemeinsame Aufmerksamtkeit und wechselseitiges Wissen teilen zu können und dies auch zu wollen (vgl. nach Tomassello 2012, S. 11). Kinder erlernen im Laufe ihrer Kindheit, sozial-kognitiven Fähigkeiten, die Motivation zur Zusammenarbeit, die Fähigkeit zu komplexer Kommunikation als Sender und Empfänger von Botschaften, durch soziales Lernen und eben durch die zunehmend ausdifferenzierte geteilte Intentionalität, zunehmend kooperativer zu handeln und an kooperativem Gruppendenken teilhaben zu können – all diese Fähigkeiten sind einerseits im Menschen angelegt und werden im Laufe seiner primären Sozialisation unterschiedlich ausgeprägt entwickelt. Laut Tomassello lassen sich beide Denkrichtungen in die zwei extreme Gegenpole reduzieren, dass Menschen kooperativ geboren werden (Rousseau) oder dass Menschen von Geburt an egoistisch und nicht hilfsbereit sind und erst von der Gesellschaft erzogen werden müssen (Hobbes) (vgl. ebd., S. 19).

Kinder lernen im Verlauf ihrer Primärsozialisation unter anderem, ob kooperatives Verhalten, Hilfsbereitschaft und das Einhalten von normativen Erwartungen, Rollen und gelingende Kommunikationssituationen dazu führen, dass das Gegenüber sich ebenfalls kooperativ, hilfsbereit und aufgeschlossen zeigt oder sie erleben es eben nicht.

Neben Tomasselo hilft mir Schleiffers funktionale Analyse und die Begrifflichkeit der Adresse, um gelingende soziale Interaktion besser verstehen und analysieren zu können (vgl. 2013, S. 13ff). Der Begriff der Adressabilität ist der soziologischen Systemtheorie und der allgemeinen Theorie der Sinnessysteme entlehnt. Adressierungsprozesse lassen sich nach Schleiffer bereits in der frühesten Mutter-Kind-Interaktion beobachten, hierbei kommt es in der Regel (und bei gelingender Interaktion) zu positiven Affekten. Schleiffer beschreibt in seinem Grundlagenwerk „Verhaltensstörungen. Sinn und Funktion“ beinahe unterhaltsam, wie sich von frühester Kindheit an entwicklungspsychopathologisch die Entstehend von Dissozialität rekonstruieren lässt und mündet in der Feststellung, dass sich „Dissozialtät immer wieder auf ein Versagen der elterlichen Erziehung zurückführen lässt. Die Eltern zeigen sich nicht in der Lage, ihre Kinder ausreichend zu beaufsichtigen (…) (ebd., S. 31). Es entwickelt sich ein Coersive Cycle zwischen den ineffizienten Erziehungspraktiken der Eltern und dem dissozialen Verhalten des Kindes. Mit der Zeit erweisen sich nur noch feindselige Kommunikationsbeiträge als anschlussfähig im Sinne einer Adressabilität. Nach Schleiffer charakterisiert Dan Olweus (Dissozialitätsforscher) das familiäre Klima als „too little love an care, too much freedom“: Eltern verwahrlosen ihre Kinder, wenn sie ihnen nicht die angemessene Sorge, Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen, wenn sie sie nicht angemessen adressieren (vgl. ebd., S. 31).

Warum erwähne ich Scheiffer an dieser Stelle? Weil für mich durch Scheiffers Ausführungen auch klar wird, dass Tomassellos  soziale Praktiken von den Menschen, die einen umgeben, leider nicht immer übernehmenswert erscheinen und sonderpädagogische Lehrkräfte in ES stets im Hinterkopf haben müssen, unter welchen Primärsozialisationsbedingungen die SuS heranwuchsen. Als Resultat aus Schleiffers Erkenntnissen lässt sich ziehen, dass dissoziale Kinder und Jugendliche aus Sicht der Funktionalen Analyse grundsätzlich nicht mehr erwarten, ausreichend und von Kommunikation mit anderen adressiert zu werden. Beteiligung an Kommmunikation (und Kooperation) erscheint als asymmetrisch konfiguriert (wie auch Erziehung an sich asymmetrisch konfiguriert ist). In der Folge helfen diese Kinder und Jugendlichen anderen nicht mehr und lassen sich ebenso nicht von anderen helfen, weil sie Hilfe als Bedrohung erleben, wenn das Vertrauen fehlt. Häufig geht das Verhalten von diesen Kindern und Jugendlichen mit dem Enttäuschen von normativen Erwartungen einher: aus Sicht der Funktionalen Analyse kann die kommunikative Anschlussfähigkeit von nonkonformen Handlungen als höher eingeschätzt werden. Dissoziales Handeln erhöht so den Grad der Vorhersehbarkeit und kaschiert so die bestehende Unsicherheitstoleranz (vgl. ebd., S. 43ff und Schleiffer, 2018, S. 230ff). Die Entwicklungspsychopathologie ermöglicht also ein besseres Verständnis und Nachvollziehbarmachen von Prozessen, die  Tomassello als im Menschen angelegt und sich im Laufe der Kindheit entwickelnd beschreibt – Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES konnten folglich überdurchschnittlich häufig nicht in ihren primären Sozialisationserfahrungen „aus dem Vollen schöpfen“ und zeigen möglicherweise auch daher häufig so gering erscheinende kooperative Kompetenzen.

Zurück zu Tomassello: Kinder versuchen also in neuen Kontexten regelrecht aktiv herauszufinden, was sie tun sollen, welche Rollen wem zugeschrieben werden, welche Normen gelten und welche Verhaltensweisen sozial akzeptiert sind: Am ersten Schultag wollen Schüler:innen zum Beispiel unbedingt wissen, wo sie ihre Jacken aufhängen sollen, welche Abläufe es gibt und wer im Raum „die Macht“ hat (vgl. ebd., S. 40).

Menschen erschließen sich beim gemeinsamen Tuen den Sinn gemeinsamen Tätigkeiten, was die Begrifflichkeit geteilte Intentionalität beschreibt. Ein Beispiel hierfür ist: Die gemeinschaftliche Tätigkeit des Spazierengehens im Unterschied dazu, dass man parallel zu einer unbekannten Person eine Straße entlang geht. Es gibt in dieser gemeinschaftlichen Tätigkeit eine Art abstraktes Wir, die geteilte Intentionalität des Spazierengehens. Deutlich wird dies in dem Moment, wenn eine der beiden Spazierengehenden ohne Ankündigung in eine andere Richtung abbiegt; es bestand eine gemeinsame Verpflichtung mit gegenseitiger Erwartung, dass man eben gemeinsam geht. Diese geteilte Intentionalität gibt es mit anderen Personen, die man zufällig trifft, nicht. Ein weiteres Beispiel soll die Komplexität menschlichen Kommunizierens und Kooperierens verdeutlichen: In einer Bar sitzend kann ein Gast jederzeit durch eine reine Zeigegeste auf ein leeres Glas dem Barkeeper verdeutlichen, dass er um eine weitere Bestellung des Getränkes bittet. Alle Beteiligten erkennen den gemeinsamen Hintergrund (Kontext) und agieren entsprechend ihrer Rollen. In einem anderen Kontext könnten sich hier zwei Personen von den Anonymen Alkoholikern kennen und das Zeigen auf das leere Glas soll dem Barkeeper verdeutlichen, dass der Gast es immer noch schafft, Alkohol zu widerstehen (vgl.  ebd., S. 88 ff).

Drei grundlegende Intentionalitäten des Helfens und Teilens lassen sich unterscheiden:

  • Auffordern (ich möchte, dass jmd. Etwas tut, um mir zu helfen)
  • Informieren (ich möchte, dass jmd. Kenntnis von etwas nimmt, weil ich glaube, dass es hilft)
  • Teilen (ich möchte, dass jmd. etwas Bestimmtes fühlt, damit wir Einstellungen oder Emotionen miteinander teilen können

Diese Grundmuster sind bereits im Säuglingsalter im Kommunikationsverhalten beobachtbar, bevor Kleinkinder Zeigegesten einsetzen. Grundlegende kooperative Momente beinhalten stets eine gewisse Reziprozität, die sich bereits in geteilten Interaktionen zwischen Säugling und (häufiger) der Mutter nachvollziehen lassen. So beginnt mit dem Beginn des Lebens von Menschen unmittelbar gemeinschaftliches Agieren und gelingendes kooperatives Kommunizieren, welches sich in unzählbar vielen Situationen im Laufe der (frühen) Kindheit individuell ausprägen wird (vgl. ebd., S. 200ff).

Was haben Tomassellos Ursprünge der menschlichen Kommunikation und Kooperation mit dem Entwicklungsziel „kooperative Kompetenzen“ fördern zu tun?

Aus den oben aufgeführten grundlegenden Erkenntnissen über gemeinschaftliches Sein und gelingendes kooperatives Handeln lassen sich bedeutsame Erkenntnisse für die Erhebung individueller Lernvoraussetzungen in Bezug auf kooperative Kompetenzen von Schüler:innen in Frageform ableiten:

  • Sind SuS in der Lage, die jeweiligen kontextspezifischen (oftmals ungeschriebenen) Regeln, Rollen und Normen zu erkennen?
  • Wie sind sie in Bezug auf ihre eigene Biografie sozialisiert? Welche Regeln, Rollen und Normen übernahmen sie in ihren Herkunftsbezügen?
  • Sind SuS eigenständig in der Lage, sich in neuen Kontexten Regeln, Normen und Rollen zu erschließen und kontextspezifisch zu (re)agieren?
  • Sind die aus sich heraus motiviert, neue Regeln, Normen und Rollen anzunehmen?
  • Haben SuS in ihrer vorschulischen Sozialisation die Fähigkeit zur geteilten Intentionalität ausreichend gelingend erleben können und ausdifferenzieren können?
  • Konnten sich in der Kindheit entsprechende soziale-kognitive Fähigkeiten entwickeln?
  • Wurde Reziprozität in kooperativen und gemeinschaftlichen Momenten als positiv erlebt?
  • Können gemeinsame Hintergründe/Kontexte erkannt werden?
  • Kann gemeinschaftliches Tun als mit Sinn gefüllt erkannt werden?
  • Erscheinen SuS adressierbar in Bezug auf gemeinschaftliches Handeln, Helfen, Teilen?
  • Können SuS Hilfen annehmen und einfordern? Altersangemessen?
  • Liegt bereits eine vertrauensvolle und belastbare Beziehung zur Lehrkraft vor?
  • Wie unsicherheitstolerant erscheinen die SuS?

Dieser Fragenkomplex ließe sich noch tiefer ausdifferenzieren, verdeutlicht aber meiner Einschätzung nach, wie komplex bereits auf grundlegender, basaler Ebene kooperative Kompetenzen sich analysieren lassen. Und bisher habe ich noch nicht erwähnt, dass natürlich weitere Kompetenzbereiche als Voraussetzung für einen gelingenden Ausbau kooperativer Kompetenzen gelten können:

Beispielhaft seien hier nur die Bereiche

  • Emotionsregulation/ Exekutive Funktionen
  • Regelkompetenzen
  • Motivationale und volitionale Aspekte

erwähnt, die ihrerseits, meiner Erfahrung nach, häufig selbst Zielgegenstand sonderpädagogischer Förderung in ES werden.

Die folgende Abbildung setzt visuell den zweiten und dritten Schritt des Didaktischen Dreischritts in Bezug auf kooperative Kompetenzen um und bezieht sich einerseits aufbauend auf o. g. Ausführungen auf Schäfers Lernfeld Kooperatonsfähigkeit, welches um individuelle Erweiterungen ergänzt wurde. Andererseits wird in Anlehnung an Leisens Kalkulierte Herausforderung im Sinner der Zone der proximalen Entwicklung ein gangbarer Weg zur sonderpädagogischen Entwickungszielformulierung verdeutlicht.

Eine ganz andere Vorgehensweise sonderpädagogischer Förderung in ES als Ausblick

Neben dem oben beschrieben klassisch-sonderpädagogischen Setting (klassisch im Sinne einer dualen sonderpädagogischen Unterrichtsplanung, die reklamiert, neben fachlich-curricularen Inhalten auch Entwicklungsziele (im Sinne einer überfachlichen Förderung) im Kontext Unterricht/Schule zu intendieren), welches als Zielperspektive anvisierten Kompetenzzuwachs verfolgt, lässt sich in Bezug auf das Entwickeln von kooperativen Kompetenzen (im Sinne von sozialer und emotionaler Kompetenz) auch noch ein anderer „Förder-„ und Denkansatz für sonderpädagogische Förderung  in ES entwickeln:

Handlungsleitend ist die Frage: „Warum kann es hilfreich sein, nicht vermeintlich messbare oder kriteriengeleitete Kompetenzaufbau intendierende Entwicklungsziele zu verfolgen?“

Trotz aller o. g. Breitenbachschen Bemühungen, durch eine doppelte Hypothesenbildung einen naturalistische Fehlschluss zu vermeiden, entlehnt sich sonderpädagogische Förderung so eine Denklogik, die Menschen als normativ kompetent und eben auch normativ inkompetent sein lässt - SuS mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in emotionaler und sozialer Entwicklung erscheinen so unbeabsichtigt als "Mangelwesen", die durch sonderpädagogische Förderung "geheilt" werden und durch sonderpädagogische Förderung zukünftig in einen Zustand versetzt werden sollen, der weniger mangelhaft oder als besser, kompetenter beschrieben werden kann. Das Label Ressourcenorientierung sonderpädagogischer Förderung verdient diese "Heilung" junger Menschen nicht wirklich, vielmehr zeigt sich so die immer noch vorherrschende Medizinalisierung und Psychologisierung unserer Disziplin, wie Willmann 2012 feststellt.

Rose-Krasnor gibt durch ihr Konzept emotionaler-sozialer Kompetenzen einen Weg vor, der die Entwicklung ebendieser Kompetenzen im Kontext Schule/Unterricht auch anders ermöglicht: Angelehnt an das Wissen, wie sich bei Menschen/Kindern emotionale und soziale Kompetenzen entwickeln und was es bedeutet, sozial kompetent zu sein, muss der sonderpädagogische Unterricht so geplant und durchgeführt werden, dass alle SuS sich als gelingend sozial kompetent agierend erleben. Eben dieses sich als kompetent Erleben führt in der Folge dazu, dass SuS sich selbst zunehmend als sozial kompetent handelnd erfahren und in ihrem Selbstkonzept in Bezug auf sozial kompetentes Verhalten nun verinnerlichen, ebendieses zu sein. In der Veröffentlichung „FesK“, Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen der Universität München, wird explizit auf Rose-Kransors entwicklungspsychologisches Konzept zur Entwicklung sozialer Kompetenzen rekurriert. Folgende Darstellung ist der FesK, S. 8, entnommen und verdeutlich Rose-Krasnors Gedanken. Die unterste Ebene repräsentiert letztlich Tomassellos und Schleiffers Ausführungen auf der interpersonell differierenden Fertigkeitsebene. Gelingt es uns im Kontext sonderpädagogischen Unterricht in ES also, auf der Kontextebene den Unterricht so zu gestalten, dass SuS sich als erfolgreich emotional und sozial agierend erleben, können auf der Fertigkeitsebene positive Entwicklungen initiiert werden, ohne dass sie kompetenzorientiert erfassbar oder messbar quantifizierbar gemacht werden müssen. Positive Entwicklungen würden sicherlich sicht- und erlebbar werden:

Literaturhinweise (ergänzend zu den Links im Text)

Lang, Alexander und Walbert, Georg: Variable sonderpädagogische Unterrichtsplanung in ES. Zeitschrift für Heilpädagogik, 1, 2021, S. 23-33

Moser, Vera, Kropp, Andreas, 2014: KIS Abschlussbericht

Weiß, Sabine, Kollmannsberger, Markus und Kiel, Ewald: Sind Förderschullehrkräfte anders? Eine vergleichende Einschätzung von Expertinnen und Experten aus Regel- und Förderschulen. In: Empirische Sonderpädagogik, 2013, Nr. 2, S. 167-186

Willmann, Marc, 2012: De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik

Schulgesetz NRW

Kritik des Begriffs „Förderung“ von Erwin Breitenbach

 

Hinweis zur Nutzung des Artikels

Dieser Text ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen. Bei Nutzung, auch von Auszügen, ist eine Autorennennung mit Quellenangabe nötig. www.dasistes.info, Alexander Lang 2022

 

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