Wie sich Emotionen und Emotionsregulation ontogenetisch entwickeln und die Erörterung der Frage, ob es „die“ sonderpädagogische Förderung von Frustrationstoleranz in ES geben sollte

von Alexander Lang

Kreisrundes Logo der Homepage„ES“ trägt die Begrifflichkeit, wie im Teaser erwähnt, prominent im Namen: Emotionale und soziale Entwicklung. Schülerinnen und Schülern mit sonder­pädagogischem Unterstützungs­bedarf in ES werden auch durch eine als auffällig erachtete Emotionalität identifiziert: Wie heftig sie emotional reagieren, wie angemessen oder eben auffällig wenig sie ihre Emotionen regulieren können, wie unvorhersehbar sie emotional für Mitmenschen (re)agieren, wie sie eigene Gefühls­zustände wahrnehmen und erleben und wie sie Gefühle anderer wahrnehmen oder beschreiben.

In diesem Artikelbeitrag soll nach der Beschreibung von Definitions­versuchen von „Emotionen“ zunächst der emotionalen Entwicklung und der Entwicklung der Emotions­regulation nachgegangen werden, um abschließend folgende Frage näherungsweise zu erörtern: „Wieso erscheint es als so überaus schwierig, die emotionale Entwicklung sonderpädagogisch zu fördern?“ Bedeutung bekommt diese Frage aus meiner Perspektive daher, da die Entwicklungs­ziele „Frustrations­toleranz fördern“ und „Emotionalität fördern“ mir sehr häufig begegnen und Unterrichts­reihen selten klar beobachtbare positive Entwicklungen ergeben.

Wie entwickeln sich Emotionen bei Menschen?

Was ist mit „so überaus schwierig“ gemeint? Subjektiv ergibt die berufliche Erfahrung des Autors hier im ES-Bereich ganz klar eine rein anekdotische Evidenz – allerdings wird diese seit vielen Jahre durch die Tätigkeit als Seminarausbilder erweitert, d. h. der Erfahrungs­horizont dieser anekdotischen Evidenz erstreckt sich auf sehr viele Schülerinnen und Schüler in großen Teilen NRWs und auf sehr viele (Förder-)Schulen. Trotzdem erscheinen die Auffälligkeiten im o. g. Bereich der Emotionen sehr persistent zu sein, sprich durch schulische (sonderpädagogische) Unterstützung kaum in unauffällige Bereiche überführbar zu sein.

Warum ist das so?

Schulseitig (aber auch darüber hinaus im familiären und therapeutischen Bereich) werden größte Anstrengungen in vielerlei Hinsicht getätigt.
Diesem Warum soll nachgespürt werden. Abschließend erfolgt noch eine subjektive Kritik des Entwicklungsziels „Frustrationstoleranz fördern“, welches im ES-Bereich durchaus als geläufiges Ziel sonder­pädagogischer Unterstützung im Kontext Unterricht verstanden werden kann.

Widersprüche, Krisen und Schwierigkeiten

Generell kann davon ausgegangen werden, dass menschliche Entwicklung nicht als linear ausgerichtet, sondern vielmehr als sich in einer großen Wider­sprüchlichkeit vollziehend beschrieben werden kann. Insbesondere die Entwicklung des Psychischen kann als eine Abfolge und Melange von Widersprüchen, Schwierigkeiten und Krisen verstanden werden (Störmer 2013, S. 158f).

An dieser Stelle kann keine vollumfängliche Darstellung der Emotions­entwicklungs­konzepte geleistet werden. Die interessierte Leserin kann dies durch die Lektüre von Holodynskis und Friedlmeiers oder Götz Standard­werken der Entwicklung und Regulation von Emotionen im Selbststudium leisten. Allerdings wird in Anlehnung an die Erkenntnisse o. g. Autoren und durch Ergänzung der Ausführungen Störmers eine Verständnis der Entwicklung der Emotionen und ihrer Regulation zu skizzieren, welches nachvollziehbar macht, wie unfassbar bedeutsam die ersten Lebensjahre für das Sosein von Kindern und Jugendlichen für ihre Lebenszukunft sind.

Definitionsversuch des Begriffs Emotion – was sind Emotionen?

Wie so oft, gibt es auch auf diese Frage weder eine einfache, noch eine eindeutige Antwort. Seit beinahe 100 Jahren gibt es verschiedene theoretische Modelle, die sich dem Phänomen Emotionen von Menschen verschreiben. Eine einheitliche und disziplin­übergreifende Definition (z. B. in der Entwicklungs­psychologie, Ethologie, Biologie, Medizin, Kognitions­psychologie, Allgemeinen Psychologie, Lernpsychologie, Schul­psychologie etc.) und Ursächlichkeit menschlicher Emotionen liegt nicht vor. Dafür gab und gibt es weiterhin in der Emotions­forschung unterschiedliche Emotions­theorien, die in einigen Teil­aspekten übereinstimmen, in anderen Teil­aspekten aber große Unterschiede aufweisen.

Emotionen können als multi­dimensionale Zustände verstanden werden. Es bleibt aber offen, was die Emotionen eigentlich ausmacht. Ist es das Erleben eines Gefühls, die begleitenden physiologischen Reaktionen, das emotionale Verhalten oder eine Kombination aus diesen Elementen? (vgl. „Definition von Emotionen“). Der Begriff Emotion kann also als ein hypothetisches Konstrukt verstanden werden.

Aktuelle Zustände
Die Aktualität bzw. das episodische Auftreten eines emotionalen Zustands ist ein z. B. die erhöhte Bereitschaft eine emotionale Episode zu erleben, z. B. Ängstlichkeit oder Wut. Von den Stimmungen hingegen unterscheiden sich die Emotionen durch höhere Intensität, kürzere Dauer und die Objektgerichtetheit.

Unterscheidung nach Art und Intensität
Die Klassifikation von Emotionen nach der Art, bzw. Qualität liefert viele unterschiedliche Typen (50 –100), z. B. Freude, Ärger, Angst, Wut, Enttäuschung, Trauer, Liebe, Scham etc., wobei die Grenzen zwischen ihnen nicht sehr scharf sind. Innerhalb eines Qualitätstyps unterscheidet man zwischen den Intensitäten.

Objekt oder Ereignis als Anlass für Emotionen
Das die Emotionen veranlassende Objekt (z. B. Person) oder Ereignis kann, muss aber gar nicht real existent sein. Entscheidend ist vielmehr die Interpretation der Ereignisse (Vorstellungen über Ursachen und Einschätzung der Bedeutung der Ereignisse oder eine Überzeugung von der möglichen Existenz eines Ereignisses) und nicht sie selbst. Hier zeigen Emotionen eine starke mentale, also kognitive Komponente.

Erleben, physiologische Komponente und Verhaltensweisen
Eigene Emotionen sind Individuen i. d. R. unmittelbar zugänglich, Emotionen anderer sind allerdings nur aufgrund der beobachtbaren Verhaltens­komponente, des berichteten Erlebens und der Informationen über die Aspekte der Emotionen, den Kontext (=Situation) und die Person im emotionalen Zustand erschließbar und damit "hypothetische Zustände".

Die subjektive Komponente (das Erleben) entspricht dem Empfinden eines Gefühls. Physiologische Veränderungen beinhalten vegetative Symptome und Vorgänge im ZNS. Die Verhaltensweisen beziehen sich auf den expressiven Aspekt von Emotionen wie z. B. der motorische Ausdruck (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Merkmale der Stimme), Körperbewegungen sowie auf instrumentelle Handlungen (bsp. Hilferufe oder Fluchtverhalten beim Empfinden von Angst).

Neben diesen grundlegenden Erkenntnissen zu Emotionen gibt es noch die Annahme, dass Emotionen relational zu verstehen sind, d. h. als eine Beziehung, die notwendigerweise den Menschen und die physische und soziale Umwelt als die Pole eines Feldes miteinander verbindet. So kann die Entwicklung von Emotionen als ein wechselseitiger, reziproker Prozess, verstanden werden. Zudem können Emotionen auch als funktional angesehen werden, d. h. entscheidend für die Befriedigung der Bestrebungen und Ziele von Menschen (vgl. Holodynski 2006, S. VII).

Die Emotionen Freude, Trauer, Furcht, Überraschung lassen sich als Basisemotionen identifizieren (vgl. Wirtz, 2023, Hogrefe Online: Dorsch Lexikon Psychologie).

Götz liefert 2016 eine kurze, aber prägnante Definition von Emotion (S. 20): Emotionen sind mehrdimensionale Konstrukte, die aus affektiven, physiologischen, kognitiven, expressiven und motivationalen Komponenten bestehen.“ Zudem gibt er eine Übersicht der aktuellsten Erkenntnisse zu den Emotion und den damit eng assoziierten Themenfeldern Motivation und Selbstregulierten Lernen als Beitrag zur Schul­psychologie und liefert neben den fachlichen Grundlagen, aktuellen Konzepten auch Anwendungs­hinweise zur Förderung im Kontext Schule.

In den vergangenen weit über 100 Jahren kann sich die Psychologie zur Ursächlichkeit, dem Nutzen, der Klassifikation und Nomenklatur und vielen anderen Fragen auf kaum einen gleichen Nenner einigen. Zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Ideen­geschichte werden einige der bekanntesten Emotions­theorien hier genannt:

Emotionstheorien – eine Kurzübersicht über mehr als 150 Jahre Forschung

Auf der Homepage des Wiener Psychologen und Emeritus Trimmel finden sich kurze aber interessante Ausarbeitungen zu den verschiedensten Emotionstheorien:
https://homepage.univie.ac.at/michael.trimmel/proseminar/emotion/:
Die Zentralistische Emotionstheorie (Cannon 1927) macht Vorgänge und Mechanismen im Gehirn für Emotionen verantwortlich. Kognitive Theorien verbinden körperliche autonome Erregung mit der Bewertung/ Einschätzung der Situation (2 Faktoren-Theorie von Schachter und Singer 1962). Lazarus formulierte in den 60er Jahren die Theorie der Rolle kognitiver Einschätzungen bei der Emotionsgenese. Die James-Lange Theorie (1984/85) fasst die Emotion als das Empfinden von körperlichen Erregungssymptomen auf. Frijda (1986) vertritt die Auffassung, dass Emotionen dem Wahrnehmen drängender Handlungsimpulse/-tendenzen entsprechen und Solomon (1988) setzt sie mit der kognitiven Eischätzung der Situation gleich. Nach Weiner sind Emotionen bestimmte lust- oder unlustgetönte Zustände, die durch Einschätzungen der Ereignisse verursacht werden und Handlungstendenzen bewirken (vgl. o.g. Homepage, Beitrag „Definition von Emotionen“). Des Weiteren sollen hier noch auf die historische Emotionstheorie nach Darwin (1872), nach McDougall (1908, „Instinkte“, „primäre“ und „sekundäre Emotionen“), nach Plutchik (1980, „Es gibt acht grundlegende Emotionen“), nach Watson, Hull und Skinner (Lernpsychologische Theorien zu Emotionen ab 1920) und Izard und Tomkins (60er Jahre) verwiesen werden. Die Ausarbeitungen stammen von Studentinnen Timmels und seine Homepage bietet zu diesem Thema eine sehr umfangreiche frei zugängliche wertvolle Wissensquelle für interessierte Laien.
Holodynski und Friedlmeier erweitern (ab den späten 90ern) bisherige Emotionstheorien um das Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung und fokussieren auf Kulturspezifikationen und die Emotionsregulation. (Holodynski 1999, S. 66 „kulturelle Gefühlsschablonen“ und Emotionsregulation in Kindheit und Jugend, vgl. ebd. S.197ff und S. 219ff und Holodynski und Friedlmeier als Hrsg. 2006, „Ontogenese der Emotionen und der Emotionsregulation, S. 81ff).

Sonderpädagogisch interdisziplinäre Sicht auf die Emotionsentwicklung und Entwicklung der Emotionsregulation

Aus sonderpädagogischer Sicht nimmt Störmer die Erkenntnisse Holodynskis und Friedlmeier auf und beschreibt in seinem wunderbaren Buch „Du störst“ zur Entwicklung eine umfassende Entwicklung emotionaler Kompetenzen beim Menschen.

Die kognitions- und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Holodynskis und Friedlmeier ergänzt er um die Erkenntnisse der modernen Bindungsforschung: „Die Bindungsqualität erweist sich hier als ein sicherer Prädiktor für sozioemotionale Kompetenz“, Herz 2013 nach Störmer 2013, S. 164) aber auch der Tätigkeitspsychologie Leontjews – spannend und höchst lesenswert (vgl. Störmer 2013, S. 160ff). Ich merke eine gefühlte Verbindung zu Vygotskys Interiorisierungs­konzept an („Interiorisierung geht davon aus, dass jede innerpsychische Funktion einstmals sozialer Natur“, Römer 2011, S. 9ff).

Tabelle miteinem Zitat zu Emotionen

Interaktion muss aktiv zu etwas Intrapsychischem transformiert werden

Im Internalisierungs­modell nehmen die emotionalen Ausdruckszeichen, Regulations­strategien und die Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind (wie in der Bindungs­forschung) eine bedeutsame Position ein. Ausdruckszeichen sind die Kommunikationsmittel der Beteiligten und insbesondere die anfänglich vorhandenen Regulationsstrategien der Bezugsperson spielen die wichtigste Rolle beim Entwickeln von der Fähigkeit des Kindes zur Emotions­regulations­entwicklung. Wie in der Bindungs­forschung entscheidet die Feinfühligkeit der Bezugsperson überragend bedeutend diesen Prozess gelingender Interaktion und auch gelingender Entwicklung der Regulation und Ausentwicklung von Emotionen des Kindes: es geht um die Fähigkeit der Wahrnehmung, bezogen auf die Motivlage des Kindes, angemessen und prompt zu reagieren und handeln (unabhängig von der Befindlichkeit der Bezugsperson). Durch dieses analytische Verständnis dieser Vielzahl an Interaktionsmomenten zwischen Kind und Bezugsperson wird klar, dass es weniger um biologisches Erbe als vielmehr um ein kulturelles Weitergeben von entwickelten Emotionsformen und -funktionen und der Regulation geht. Das Kind muss aktiv aus diesem Wechselwirkungsprozess, das erlebte Interaktions­geschehen mit seinen Bezugspersonen zu etwas Persönlichem und Intrapsychischem transformieren (vgl. Störmer 2013, S. 164ff und Holodynski 2006, S. 34 und 84ff):

Nach Holodynski isoliert fünf Entwicklungsphasen dieses Internalisierungsprozesses

Entwicklungsphase 1: 1.- 2. Lebensjahr

Die Bezugsperson nimmt die noch ungerichteten kindlichen Ausdruckszeichen und Körperreaktionen wahr, muss sie angemessen deuten und spiegelt sie dann wider (intuitive elterliche Kompetenzen) und reagiert mit motivdienlichen Bewältigungshandlungen. Dieses Bezugspersonenreaktion (immer noch häufig die Mutter) vervollständigt  die in dieser Phase vorhandenen kindlichen Vorläuferemotionen Distress, Schreien, Ekel, Naserümpfen, Erschrecken, Zusammenzucken, Interesse, gerichtete Aufmerksamkeit, Wohlbehagen und Lächeln (vgl. Holodynski 2006, 88ff). Die emotionale Handlundgsregulation ist in dieser Phase interpersonell organisiert: Das Kind lernt so, sich bei auftretenden Emotionen gezielt an die Bezugsperson zu wenden und diese reagiert prompt mit konkreten Maßnahmen, um negative Emotionen abklingen und positive andauern zu lassen – ein im besten Fall optimal aufeinander abgestimmtes Wechselspiel. Im Übergang vom ersten zum zweiten Lebensjahr verändert sich diese Beziehung zwischen der Bezugsperson und dem Kleinkind: das Kleinkind zeigt erste selbstständige Regulationen der Emotionen und Handlungen: es kann am Ende des zweiten Lebensjahres emotionsbezogene Strategien zur Beruhigung, Ablenkung und erste symbolisch vermittelte Strategien anwenden.

Entwicklungsphase 2: 3.- 6. Lebensjahr

Die zu bewältigende Entwicklungsaufgabe ist, die bisherige vollumfassende Unterstützung durch die Bezugsperson(en) zu reduzieren. Als Folge dessen kann das Kind intrapersonale und reflexive Emotionsregulation entwickeln – hierbei muss es unterstützt und bestärkt werden, eigene Handlungen, Emotionen und Volitionen ohne soziale Rückversicherung selbstständig zu regulieren. Dies geschieht natürlich noch nicht immer optimal: überschießende können sich mit unangemessen erscheinenden Reaktionen abwechseln. Vorbildhandeln durch nahe Bezugspersonen oder häufige Interaktionspartnerinnen findet sicherlich auch statt. Die bisher (notwendige?) allumfassende Unterstützung durch die Bezugspersonen wird reduziert - es entwickelt sich zunehmend die intrapersonale als auch die interpersonale Handlungsregulation. Die gilt auch für die reflexive Emotionsregulation: das Kind kann seine Handlungen mittels Emotionen und Volitionen zunehmend selbstständig regulieren und ebenso zunehmend die Emotionen in Grenzen willentlich beeinflussen. Es entwickelt sich ebenso, seine Motive nicht mehr nur im Hier und Jetzt befriedigt haben zu wollen, sondern sie im sozialen Umfeld koordinieren zu können.

Entwicklungsphase 3: ab dem 6. Lebensjahr

Nun kommt es zu einem deutliche wahrnehmbaren Formwechsel der Regulationsmittel, wie Ausdrucks- und Sprechzeichen. Das Kind setzt im Zuge dieser intrapersonellen Regulation individuell Mimik, Gestik, Sprache und die eigene Körperlichkeit ein. Diese Internalisierung (im Extremfall sind nun mentale Ausdruckszeichen nur noch dem Kind selbst erkennbar, Beobachter nehmen diese mentalen Vorgänge nicht mehr wahr: aus dem lauten Fluchen wird z. B. ein innerer Sprechen) ermöglicht wiederum eine Optimierung der individuellen Ausdruckskontrolle: es entsteht so eine rein mentale Ebene  des Ausdrucks, Sprechens und Handelns, sog. "Als-ob-Gefühle". Sie beruhen nicht mehr auf von Körperreaktionen begleiteten Ausdrucksformen. Dadurch, dass eine Kind/eine Person die Emotionen mittels mentaler Ausdruckszeichen fühlen kann, kann sie ihren äußerlich sichtbaren Ausdruck sowohl kultur- als auch situationsspezifisch anpassen. Diese "Gedankenspiele" ermöglichen es Menschen, in (nahen) zukünftigen Handlungsszenarien emotional willkürlich zu re(agieren) und sie motivbezogen zu bewerten.

Entwicklungsphase 4: ab Jugendalter

Die Selbststeuerungs­kompetenzen umfassen nun auch fern zukunftsgerichtete Situationen und beinhalten ebenso die Ausdifferenzierung der Fähigkeit zur Bewertung der eigenen Motivbefriedigung, um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Der Emotionsausdruck wird verfeinert und auf die jeweiligen Interaktionspartner abgestimmt. Das emotionale Geschehen kann als klarer Teil des Selbst erkannt und Belastungen oder negative Gefühle internal im Sinne von aktiver Selbstberuhigung reguliert und kontrolliert (auch „überwacht“). Sozial komplexe Situationen können gedeutet werden und mehrere Perspektiven berücksichtigt werden. Sozial entwickelt sich nun auch verstärkt wahrnehmbarer Sozialisationsdruck: die emotioalen Reaktionen werden nicht nur aber vor allem durch Peers "gecheckt" und bewertet.

Entwicklungsphase 5: ab Erwachsenenalter

Einsetzen der reflexiven Emotionsregulation, d. h. es liegt eine (individuell ausgeprägte) emotionale Handlungsregulation und eine bewusste Reflexion dieser Prozesse vor (man ist sich der eigenen Emotionen und ihrer Regulation bewusst und sowohl die willentliche Regulation als auch das Nachdenken über diese Fähigkeiten liegt vor).

Entwicklung der Emotionsregulation als komplexer Ausdifferenzierungsprozess

Der Prozess der Entwicklung der Emotionsregulation kann als Ergebnis hochkomplexer interaktiver Wechsel­wirkungsprozesse verstanden werden. In diesem reziproken Prozess findet einerseits die Emotions­regulation des Kindes statt, andererseits entdeckt das Kind gleichzeitig während dieser Prozesse, wie es mit den eigenen Emotionen umgehen kann (und wie sie sich anfühlen). Die (Aus)Entwicklung der Emotionsregulation findet im sehr jungen Lebensalter vor allem durch Regulation der Bezugsperson statt und entwickelt sich ab dem Kleinkind­alter vermehrt von dieser interpersonalen zu einer intrapsychischen Regulation. Das Kleinkind kann sich zunächst unter Anleitung und Monitoring von Bezugspersonen und später immer mehr eigenständig intrapsychisch regulieren – es findet ein Ausdifferenzierungsprozess des Ausdrucks und Erlebens bei gleichzeitiger kognitiver Weiterentwicklung statt (vgl. Störmer S. 167-170).

Tabelle mit Zitat

Was hat das alles nochmal mit ES zu tun?

Nimmt man an, dass für die menschliche Entwicklung eine dialogisch-kooperative Beziehung zentral ist und dialogisch-kooperative Beziehungen im Mikrokosmos menschlicher Kernbereiche (Familie, Kleinfamilie) von Sicherheit, Wertschätzung, unbedingter Liebe und sozial unterstützenden Umweltfaktoren stark abhängig sind, wird deutlich, warum Schülerinnen mit sonder­pädagogischen Unterstützungs­bedarf in ES häufig Entwicklungs­auffälligkeiten vielfältiger Art und Weise und Ausprägung zeigen:

Erweisen sich Kommunikation und Interaktionen in den ersten Lebensjahren als inkonsistent, liefern sie nicht die erforderlichen Sicherheiten zum Handeln, ist die Passung der vorhandenen Ausprägung der Feinfühligkeit, der intuitiven elterlichen Kompetenzen zu den individuellen Bedürfnissen des Kindes nicht ausreichend für gelingende, gemeinsame Bewältigungen, entstehen Überforderungen auf beiden Seiten (Kind und Bezugsperson). Passend bedeutet keinesfalls „optimal“ oder „immer“ – Alexander Trost führt hier als „genügend“ das „good enough“ Prinzip an, es sollte überwiegend passen du Irritationen oder Störungen dieser o. g. Wechselprozesse sind sogar als hilfreich für eine „gesunde Entwicklung“ zu verstehen (vgl. Trost 2021, S. 20). Viele Kinder und Jugendliche mit sonder­pädagogischen Unterstützungs­bedarf in ES wachsen unter stark entwicklungs­feindlichen Bedingungen, insbesondere in den ersten Lebensjahren, auf: psychische und physische Gewalt­erfahrungen, Missachtungs­erlebnisse, emotionale Desorientierung, psychische Störungen von Bezugspersonen, finanziell prekäre Wohn- und Lebens­situationen, Misserfolgs­karrieren in der Familien­geschichte, Substanzmittel­gebrauch- und Missbrauch, fehlende familiäre Unterstützung von jungen Elternteilen, Rechtsbrüche und Maßnahmen­karrieren sind nur einige identifizierbare Umstände, die o. g. erste Lebensjahre prägen (vgl. Störmer S. 186f).

„Manche „Verhaltensstörung“ zeigt sich unter diesen Lebensbedingungen als eine Handlung, durch die das Kind seine Beziehung zur Umwelt reguliert, auf die es verändernd einwirken will, dies aber nicht so recht gelingt“ (ebd., S. 187).

Dass Schüler mit sonder­pädagogischem Unterstützungs­bedarf in ES also „Auffälligkeiten“ im Bereich der Emotionen, der emotionalen Kompetenz, der Emotions­regulation, dem Emotionswissen, über die Bedeutung mentaler Vorgänge, dem Geborgenheits­gefühl, dem Umgang mit frustrierenden Erlebnisse oder vermeintlich Frust auslösenden Ereignissen, dem Lernen und dem Leistungs­erbringen zeigen, erscheint nach den Ausführungen mehr als verständlich. Die Emotions­entwicklung die die Entwicklung der Emotions­regulation wird regelrecht chaotisiert (vgl. Holodynski 1999, S. 70ff, S. 84ff, S. 99f, S. 117ff).

Respekt & Verständnis für Schülerinnen und Schüler

„Auch die aus der Beobachtersicht dann im Handeln der jeweiligen Menschen sichtbar werdende Asozialität ist kein Ausdruck der Natur des Menschen, sondern eine Folge der Unmenschlichkeit der Lebenslage und ihrer jeweiligen Situation im einzelnen und der Ausgeliefertheit unter eben diesen Lebens­bedingungen“ (Störmer 2013, S. 199 nach Osterkamp 1999, S. 5f). Häufig bin ich in meiner beruflichen Tätigkeit beinahe immer wieder überrascht, was für tolle junge Menschen da jeden Tag aufs Neue zu mir in die Klasse kommen, deren Alltagsdasein – auch mit allen mir merkwürdig erscheinenden und teilweise sozial nicht akzeptablen Verhaltensweisen/Bewältigungsversuchen – mir großen Respekt abverlangt.

Fazit: Fördern Sie bitte nicht „mal eben so″ die Frustrationstoleranz!

Im Prozess sonder­pädagogischer Unterstützung in ES sollte die Unterstützung zur Bewältigung o. g. Lebens­realitäten von Schülerinnen und Schüler absolute Priorität haben. Erwähnt werden soll an dieser Stelle noch, dass Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihrer individuell ausgeprägte Emotions­regulation nicht psycho­pathologisiert werden sollen - viele (junge) Menschen können auch mit gering ausgeprägten Kompetenzen in diesem Bereich erfolgreiche und zufriedene Lebenswege einschlagen - allerdings kumulieren sich auf Schülerinnen mit Unterstützungs­bedarf in ES so viele Risiko­konstellationen, dass im Kontext schulische Erziehung und Bildung eben dieser Bereich stark heraus- und überfordernde Situationen herbeiführt. Vor dem ausgeführten Hintergrund des psychologischen Fachwissens der Entwicklung der Emotions­regulation und damit assoziierter Bereiche finde ich es fast vermessen, das Entwicklungsziel „Frustrations­toleranz erweitern“ zu verfolgen, wenn natürlich das Verfolgen des Ziels, den individuellen Umgang mit Frust im Kontext Unterricht oder Schule, weiterhin absolut legitim erscheint: nun aber mit dem Wissen, welch komplexer Überbau sich hier verbirgt.

Von dem Entwicklungsziel würde ich also abrücken, das Konstrukt Frustrations­toleranz erscheint mir aufgrund der aufgezeigten Komplexität der Entwicklung der Emotions­regulation beinahe trivial. Ich erlaube mir zudem die laienhafte Einschätzung, dass im Einzelfall bei Vorliegen obiger entwicklungs­feindlicher Lebens­bedingungen überhaupt Veränderungen dieser langjährigen wechselseitigen Entwicklungs­prozesse Kontext Schule möglich wären.

Statt dessen erscheint es möglich und erfolgs­versprechender, dass Fördern inhibitorischer Prozesse, der Impuls­kontrolle und der exekutiven Funktionen als eng mit der Emotions­regulation assoziierte Bereiche - die aktuelle Studien­lage ergibt, dass eine positive Beeinflussung dieser Bereiche bis in das dritte Lebens­jahrzehnt möglich ist (vgl. z. B. Sabine Höflich, 2019 oder die aktuelle Studie eines kongnitionspsychologischen Forschungsteams des Max Planck Institutes, 2022). Weiter oben genannter Götz liefert mit seinem Buch „Emotion, Motivation und Selbstreguliertes Lernen“ ebenfalls theorie­geleitete (direkte und indirekte) Ansätze, wie motivationale Probleme, der Umgang mit Frust und Emotionen im Kontext Schule förderbar und somit positiv beeinflussbar werden – meidet allerdings im gesamten Buch den Begriff „Frustrations­toleranz“ (vgl. 2016, S. 19ff und S. 55ff und S. 128ff und S.188ff). Wobei auch für diese Förderansätze Götz’s gilt, dass unbedingt eine tiefergehende Erhebung der individuellen Lern­voraussetzungen, des Lebensweges – im besten Fall von Kindheit an-  des jungen Menschen und o. g. Fachwissen über die Emotions­regulation und die dialogische Verständigung mit dem Kind oder Jugendlichen die Grundlage aller sonder­pädagogischen Unterstützungs­angebote sein sollten.

 

Literaturhinweise (soweit nicht im Text verlinkt)

Götz, Thomas (2017): Emotion, Motivation und selbstreguliertes Lernen, UTB

Störmer, Norbert (2013): Du störst!: Herausfordernde Handlungsweisen und ihre Interpretation als „Verhaltensstörung“, Frank und Timme Verlag

Holodynski, Manfred (2006): Emotionen - Entwicklung und Regulation, Springer

Holodynski, Manfred und Friedlmeier, Wolfgang (1999): Emotionale Entwicklung: Funktion, Regulation und soziokultureller Kontext von Emotionen, Springer

 

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Dieser Text ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen. Bei Nutzung, auch von Auszügen, ist eine Autorennennung mit Quellenangabe nötig. www.dasistes.info, Alexander Lang 2023

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