Entwicklungsaufgaben im Jugendalter als Wegweiser für Förderung?
von Alexander Lang
An dieser Stelle soll keine umfassende Darstellung entstehen, allerdings möchte ich einige mir wichtige Gedanken formulieren, die mir immer wieder in Erinnerung gerufen werden, wenn in Gesprächen die Frage aufkommt, was sonderpädagogische Lehrkräfte in Emotionaler und sozialer Entwicklung „anders” machen oder was „zusätzlich” fokussiert wird, wenn sie unterrichten, bzw. sonderpädagogische Förderung intendieren.
Was wird unter Entwicklungsaufgaben verstanden?
Vierbuchen (2015) gibt in Ihrer Dissertation einen umfassenden Überblick und formuliert wie folgt: „Der Mensch entwickelt sich über die gesamte Lebensspanne hinweg. Jede Lebensphase stellt eigene Anforderungen an ein Individuum. Die Lebensphase Jugend bildet in diesem Prozess ein besonders wichtiges Zeitfenster, in dem viele Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch viele Barrieren auftreten können. Diese Anforderungen bzw. deren Bewältigung können die Entwicklung positiv oder negativ beeinflussen und werden von Risiko- oder auch Schutzfaktoren moderiert.” (S. 5) Sie fährt fort: „In allen Phasen der Adoleszenz finden Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen (biologisch, sozial-emotional, kognitiv) statt, die ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen. Es entwickeln sich im Jugendalter aufgrund der biologischen Veränderungen des Gehirns und der erlebten Erfahrungen Mechanismen im Gehirn, die von fundamentaler Bedeutung und prägnant für diese Lebensphase sind.” (ebd., S. 5f)
„Das Jugendalter stellt eine verdichtete Entwicklungszeit dar: Es kommen eine Vielzahl an Entwicklungsaufgaben, aber auch ein starkes Voranschreiten der Entwicklung zusammen. Eine erfolgreiche Bewältigung dieser teils auf normativer Ebene (gesellschaftlich, sozial) fixierten, teils auf deskriptiver Ebene (biologisch) beschriebener Entwicklungsaufgaben ermöglicht dem Individuum eine positive Weiterentwicklung. Das Scheitern an Entwicklungsaufgaben führt zu einer nachfolgenden Kette von Problemen für das Individuum und seine Entwicklung. Das Risiko des Scheiterns an späteren Entwicklungsaufgaben steigt und die gesellschaftliche Akzeptanz des Jugendlichen sinkt mit jeder nicht erfolgreich bewältigten Entwicklungsaufgabe.” (ebd., S. 8)
Welche Entwicklungsaufgaben gibt es?
Hier ein beispielhafter (unvollständiger) Überblick, welche Modelle Entwicklungsaufgaben beschreiben:
Hurrelmanns Vier Cluster Modell der Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
Hier findet sich eine gelungene Übersicht zu Hurrelmanns Dimensionen, bzw. Clustern der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter, er beschreibt diese Cluster wie folgt:
Andere Autoren nehmen andere Einteilungen vor, bzw. erweitern diese von Hurrelmann benannten Cluster samt Entwicklungsaufgaben (siehe Link weiter oben und Vierbuchen, S. 8).
Havighurts Entwicklungsaufgaben in der Jugend
lassen sich wie folgt ausführen:
Eriksons Psychosoziale Krisen
beschreiben bereits in den 70er Jahren vom Säuglingsalter (1. Lebensjahr) an bis zum fortgeschrittenen Erwachsenenalter (ab 60 Jahren) altersphasentypische Aufgaben, bzw. Konflikte. Für das Jugendalter gilt hier „Identität versus Rollendiffusion”. Hier gibt Hess eine Übersicht (Folie 5).
Im Laufe der Schulzeit können vor allem die Stufen 4 und 5 verortet werden:
Phase 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (Schulalter)
In dieser Phase ist das Bedürfnis von Kindern besonders stark ausgeprägt, mitzumachen und etwas „Nützliches“ tun zu können. Die Phase des Spiels weicht nun dem Wunsch, mehr und mehr an der Welt der Erwachsenen aktiv teilnehmen zu können. Diese Phase birgt die Gefahr, sich gegenüber anderen unzulänglich oder minderwertig zu fühlen, da das Handeln noch erprobt werden muss und oftmals viele Dinge im kindlichen Tun noch nicht so gut funktionieren und viele kindliche Fähigkeiten individuell stark variierend ausgeprägt sind, was für Kinder zu deutlich wahrnehmbaren unterschiedlichen Könnensständen führt.
Phase 5: Identität vs. Identitätsdiffusion (Adoleszenz)
Die Phase des Jugendalters wird dominiert von dem Bestreben, die (gewünschte) soziale Rolle zu festigen. Jugendliche sind darauf bedacht, herauszufinden, wie sie auf andere Personen wirken und welchen Eindruck man vermittelt. Eine der zentralen Leitfragen des Jugendalters lautet, wie zuvor aufgebaute Rollen mit modernen Leitbildern oder Idealen zusammenzufügen sind. Die Kernthematik einer gelingenden Identitätsbildung ist die Balance zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung. Die Zugehörigkeit einer sozialen Gemeinschaft oder Gruppe (Peers) vermittelt Sicherheit im Denken und Handeln, insbesondere vor der Grundlage der Bewertungskriterien, die hier Orientierung vermitteln. Daher erhält der Freundeskreis, die Peer-Group von Jugendlichen in dieser Phase einen besonderen Stellenwert. Das Zugehörigkeitsgefühl, das zu einer Gruppe aufgebaut wird, verlangt auf der anderen Seite, alternative Meinungen deutlich zu negieren, um die dort empfundene Sicherheit nicht zu gefährden. (vgl. Vößing, 2012, S. 17f).
Lerners Positive Youth Development
Lerner präsentiert mit seinem Konzept der Positive Youth Development einen ressourcenorientierten Zugang dar, so entfällt die Fokussierung auf Abweichung, bzw. Störung, es werden fünf "Cs" formuliert (nach Hess):
Dieser ressourcenorienterte Ansatz Lerners bietet für Lehrkräfte den wunderbaren Vorteil, dass Resilienzfaktoren systematisch aufgebaut werden können, um positive Entwicklungsschritte zu initiieren und zu begleiten. „Von Lerner wird der lebenslange Prozess aktiver Entwicklungsregulation als „Thriving“ bezeichnet, was so viel wie gedeihen, blühen, sich entwickeln und Erfolg haben bedeutet. Thriving meint einen Veränderungsprozess, in dem Jugendliche in den Erwachsenenstatus mit positiver psychosozialer Anpassung hineinwachsen.“ (Weichold und Silbereisen 2007, S. 105) und im Kontext Schule begleitet werden können.
Bewältigung von Entwicklungsaufgaben - wo könnte Unterstützung aus ES-Perspektive konkret ansetzen?
Es fällt beim Betrachten o. g. Darstellungeen verschiedener Modelle von Entwicklungsaufgaben auf, dass auf vielen verschiedenen Ebenen - neben den kognitiv-akademischen, schulischen Lernzielen aus sonderpädagogischer Sicht Herausforderungen in vielfätiger Art und Weise - im überfachlichen Bereich - von Schülerinnen und Schülern zu bewältigen sind.
Aus sonderpädagogischer Sicht dürften viele der o. g. Entwicklungsaufgaben für Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf in Emotionaler und sozialer Entwicklung noch nicht und auch zukünftig nicht oder nur teilweise ohne Unterstützung bewältigt werden. Schule an sich, also alle Lehrkräfte, sollten gut beraten sein, sich insbesondere die schulischen Sozialisationsbedingungen in Deutschland zu vergegenwärtigen:
Die großangelegte Längsschnittsudie AIDA (Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) untersucht u. a. die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. König, Wagner und Valtin werfen in Ihren Ergebnissen 2012 bezüglich Bewältigungsmustern, Ressourcen in Hinsicht auf Ich-Stärken, Leistungsvertrauen und erlebter schulischer Hilflosigkeit aus ES-Perspektive einige kritsche Fragen auf, denn
Diese Erfahrung im System Schule machen leider viele Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf in Emotionaler und sozialer Entwickung: Sie sind abgehängt, fühlen sich minderwertig und kennen eigene Stärken und das Gefühl von Angenommen-Sein und Wohlbefinden i Kontext Schule nicht (mehr).
Resümée
In Schule an sich aber insbesondere im Förderschwerpunkt ES ist es meiner Meinung nach absolut notwendig, mit o. g. Entwicklungsaufgaben und den damit assoziierten großen Herausforderungen vertraut zu sein. Außerdem sollte es von großer Bedeutung sein, Schule so zu gestalten, dass ein entwicklungsförderliches Milieu in Schule und Unterricht herrscht und natürlich müssen Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf in ES hier systematisch unterstützt werden, um die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen; dies kann auch sonderpädagogische Förderung im Anwenden von adaptiven Bewältigungsstrategien (z. B ist der FEEL-KJ als diagnostisches Instrument denkbar), zur Entwicklung von Ich-Stärke und dem Entwickeln von angemessenem Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit als Querschnittsaufgabe bedeuten.
Literaturhinweise
Hurrelmann, Klaus (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie, 9. Aufl., Weinheim, Beltz
Hurrelmann, Klaus (2010): Lebensphase Jugend, 10. Aufl., Weinheim, Juventa
Vößing, Astrid (2012): Jugendkrisen aus systemischer-konstruktivistischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Magersucht. Dissertationsschrift, Köln, 2012
Onlinequelle: https://kups.ub.uni-koeln.de/5104/1/Dissertation_Jugendkrisen.pdf
Weichold, Karina und Silbereisen, Reiner (2007): Positive Jugendentwicklung und Prävention.
Onlinequelle: https://www.researchgate.net/publication/242095341_Positive_Jugendentwicklung_und_Pravention
Valtin, Renate, König, Johannes, Wagner, Christine (2012): Wie bewältigen Jugendliche Entwicklungsaufgaben? Ergebnisse der Längsschnittstudie AIDA. München.
Onlinequelle: https://www.hf.uni-koeln.de/data/eso30/File/Koenig%202013/AIDA_zentrale_Ergebnisse_Vortrag_DJI_2012.pdf
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