Ontogenetische Nachzeichnung basaler kooperativer Kompetenzen

von Alexander Lang

Ontogenetische Nachzeichnung basaler kooperativer Kompetenzen

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Sachanalytisch-didaktische Durchdringung von Kooperation. Warum und wie handeln Menschen kooperativ?

Kooperation fördern ist Entwicklungsziel vieler sonderpädagogischer Unterrichtsstunden. Mir sind bisher erstaunlicherweise aber keine umfassenden Kompetenz­darstellungen bekannt, die skizzieren, wie sich kooperative Kompetenzen konkret entwickeln. Außerdem habe ich den Eindruck, dass bisher bekannte Konzepte für die Schülerschaft in ES nicht treffsicher sind, d. h. die Kompetenz­ausprägung erscheint bei diesen Schülerinnen und Schüler so gering ausgeprägt, dass Konzepte wie Greens cooperative learning oder Weidners Kooperatives Lernen bereits zu hohe Kompetenz­erwartungen stellen und somit in ES oft nicht gut nutzbar erscheinen.

Mit diesem Beitrag möchte ich (mir) daher Klarheit verschaffen, wie sich kooperatives Handeln ontogenetisch beim Menschen, hier vor allem bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Da man es im Kontext sonderpädagogischen Unterrichts, bzw. sonderpädagogischer Unterrichts­planung in Emotionale und soziale Entwicklung im Entwicklungs­zielbereich zusätzlich zu den curricularen Fachzielen zu tun hat, erscheint es zielführend, sich im Sinne einer Komplexitätsreduktion modellhafte Überblicke oder Konstrukte aus den tradierten Nachbar­disziplinen (z. B. Teilbereichen der Psychologie oder Medizin) zu nutzen oder auf andere, bereits bestehende modellhafte Darstellungen des fokussierten Bereichs (hier: Ethologie) für die eigene Weiterverarbeitung zurück zu greifen.

Kooperation als zutiefst menschliches Handeln verstehen

Kooperierendes Handeln, gemeinsam Agieren, Zusammensein und gemeinschaftlich das Leben zu verbringen ist tief in Menschen angelegt. Als dem menschlichen Leben grundlegend immanent lässt sich feststellen, dass Menschen ohne Gruppenbezüge nicht (über)leben könnten. Tomassello stellt fest, dass nur wenige Menschen ohne kulturelle Gruppe, die bereits über die relevanten sozialen Praktiken und Artefakte verfügt, in ihrer Umwelt leben könnten (vgl. 2012, S. 9). Menschheits­geschichte beruht also regelrecht darauf, dass Individuen Artefakte oder Vorgehensweise erfinden oder erstmalig erfolgreich einsetzen, bzw. nutzen und andere (insbesondere Kinder) dies in kürzester Zeit ebenfalls erlernen oder übernehmen und verbessern. Menschen sind auf der Erde einzigartig in der Fähigkeit, Verhaltensweisen und Dinge zu akkumulieren und sie so immer komplexer werden zu lassen und dieses Können und Wissen (über Generationen) weiterzugeben. Verhaltensweisen als Ausdruck menschlicher Kultur können in ihrer Komplexität als soziale Institutionen verstanden werden; sie bestehen aus einer Reihe von Verhaltensweisen, wechselseitig anerkannten (expliziter und impliziter) Regeln und Normen und schaffen daraus resultierende kulturell definierte Rollen (vgl. ebd., S. 10 und Tomasello 2014, S. 83ff).

Kooperation als geteilte Intentionalität
So kann Kooperieren als eine menschliche Fähigkeit zur geteilten Intentionalität verstanden werden. Hiermit ist gemeint, dass wir mit anderen gemeinsame Absichten verfolgen und hierzu Verpflichtungen eingehen können. In diesem Prozess müssen wir in der Lage sein, gemeinsame Aufmerksamkeit und wechselseitiges Wissen teilen zu können und dies auch zu wollen (vgl. Tomassello 2012, S. 11).

Schleiffer führt passend zu Tomassellos Konzeptuierung von Kooperation als geteilte Intentionalität aus, dass die sozialen Praktiken von den Menschen, die einen in der Primärsozialisation in der Herkunftsfamilie umgeben, nicht immer übernehmenswert erscheinen (vgl. 2013, S. 13ff). Sonderpädagogische Lehrkräfte sollten über Ihre Schülerinnen und Schüler mit sonder­pädagogischen Unterstützungs­bedarf in Emotionale und soziale Entwicklung wissen, unter welchen Primärsozialisations­bedingungen diese aufwuchsen. Als Resultat aus Schleiffers Hinweisen lässt sich konkludieren, dass z. B. dissoziale, unkooperative Kinder und Jugendliche aus Sicht der Funktionalen Analyse grundsätzlich nicht mehr erwarten, ausreichend und von Kommunikation mit anderen adressiert zu werden. Beteiligung an Kommunikation (und Kooperation) erscheint als asymmetrisch konfiguriert (wie auch Erziehung an sich asymmetrisch konfiguriert ist): von einer geteilten Intentionalität im kooperativen Tun im Sinne Tomassellos kann in diesen Fällen also (noch) nicht gesprochen werden. In der Folge dieser Entwicklungs­sozialisation helfen diese Kinder und Jugendlichen anderen nicht mehr und lassen sich ebenso nicht von anderen helfen, weil sie Hilfe als Bedrohung erleben, wenn das Vertrauen fehlt. Dissoziales Handeln erhöht so den Grad der Vorhersehbarkeit und kaschiert so die bestehende Unsicherheits­toleranz (vgl. ebd., S. 43ff und Schleiffer, 2018, S. 230ff). Die angeführte systemische Entwicklungs­psychopathologie Schleiffers ermöglicht also ein besseres Verständnis und Nachvollziehbarmachen von Prozessen, die  Tomassello als im Menschen angelegt und sich im Laufe der Kindheit entwickelnd beschreibt. Neben Tomassello hilft mir Schleiffers funktionale Analyse und die Begrifflichkeit der Adresse, um gelingende soziale Interaktion besser verstehen und analysieren zu können (vgl. 2013, S. 13ff). Der Begriff der Adressabilität ist der soziologischen Systemtheorie und der allgemeinen Theorie der Sinnessysteme entlehnt. Adressierungsprozesse lassen sich nach Schleiffer bereits in der frühesten Mutter-Kind-Interaktion beobachten, hierbei kommt es in der Regel (und bei gelingender Interaktion) zu positiven Affekten. Schleiffer beschreibt in seinem Grundlagenwerk „Verhaltensstörungen. Sinn und Funktion“ beinahe unterhaltsam, wie sich von frühester Kindheit an entwicklungs­psychopathologisch die Entstehend von Dissozialität rekonstruieren lässt und mündet in der Feststellung, dass sich „Dissozialtät immer wieder auf ein Versagen der elterlichen Erziehung zurückführen lässt. Die Eltern zeigen sich nicht in der Lage, ihre Kinder ausreichend zu beaufsichtigen (…)“ (ebd., S. 31). Es entwickelt sich ein Coersive Cycle zwischen den ineffizienten Erziehungspraktiken der Eltern und dem dissozialen Verhalten des Kindes. Mit der Zeit erweisen sich nur noch feindselige Kommunikations­beiträge als anschlussfähig im Sinne einer Adressabilität. Nach Schleiffer charakterisiert Dan Olweus (Dissozialitätsforscher) das familiäre Klima als „too little love an care, too much freedom“: Eltern verwahrlosen ihre Kinder, wenn sie ihnen nicht die angemessene Sorge, Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen, wenn sie sie nicht angemessen adressieren (vgl. ebd., S. 31).

Kooperatives Handeln als auszubildende sozial-kognitive Fähigkeit
Kinder erlernen im Laufe ihrer Kindheit sozial-kognitiven Fähigkeiten, wie die Motivation zur Zusammenarbeit, die Fähigkeit zu komplexer Kommunikation als Sender und Empfänger von Botschaften, durch soziales Lernen und eben durch die zunehmend ausdifferenzierte geteilte Intentionalität, zunehmend kooperativer zu handeln und an kooperativem Gruppendenken teilhaben zu können - all diese Fähigkeiten können als im Menschen angelegt angesehen werden. Sie werden dann im Laufe der individuellen Sozialisation unterschiedlich ausgeprägt entwickelt. Kinder lernen also im Verlauf ihrer Primärsozialisation in der Herkunftsfamilie unter anderem, ob kooperatives Verhalten, Hilfsbereitschaft und das Einhalten von normativen Erwartungen, das Einnehmen und Erkennen von Rollen und gelingende Kommunikations­situationen dazu führen, dass das Gegenüber sich ebenfalls kooperativ, hilfsbereit und aufgeschlossen zeigt oder sie entwickeln es eben nicht (vollständig ausgeprägt).

Kinder versuchen also in neuen Kontexten regelrecht, aktiv herauszufinden, was sie tun sollen, welche Rollen wem zugeschrieben werden, welche Normen gelten und welche Verhaltensweisen sozial akzeptiert sind: Am ersten Schultag wollen Schülerinnen zum Beispiel unbedingt wissen, wo sie ihre Jacken aufhängen sollen, welche Abläufe es gibt und wer im Raum „die Macht“ hat (vgl. ebd., S. 40).

Beispiele für geteilte Intentionalität

Menschen erschließen sich beim gemeinsamen Tuen also aktiv den Sinn gemeinsamer Tätigkeiten, was die Begrifflichkeit geteilte Intentionalität beschreibt.

Ein Beispiel hierfür ist die gemeinschaftliche Tätigkeit des Spazierengehens im Unterschied dazu, dass man parallel zu einer unbekannten Person eine Straße entlang geht. Es gibt in dieser gemeinschaftlichen Tätigkeit eine Art abstraktes Wir, die geteilte Intentionalität des Spazierengehens. Deutlich wird dies in dem Moment, wenn eine der beiden Spazierengehenden ohne Ankündigung in eine andere Richtung abbiegt; es bestand eine gemeinsame Verpflichtung mit gegenseitiger Erwartung, dass man eben gemeinsam geht. Diese geteilte Intentionalität gibt es mit anderen Personen, die man zufällig trifft, nicht.

Ein weiteres Beispiel soll die Komplexität menschlichen Kommunizierens und Kooperierens verdeutlichen: In einer Bar sitzend kann ein Gast jederzeit durch eine reine Zeigegeste auf ein leeres Glas dem Barkeeper verdeutlichen, dass er um eine weitere Bestellung des Getränkes bittet. Alle Beteiligten erkennen den gemeinsamen Hintergrund (Kontext) und agieren entsprechend ihrer Rollen. In einem anderen Kontext könnten sich hier zwei Personen von den Anonymen Alkoholikern kennen und das Zeigen auf das leere Glas soll dem Barkeeper verdeutlichen, dass der Gast es immer noch schafft, Alkohol zu widerstehen (vgl. ebd., S. 88 ff).

Diese Grundmuster sind bereits im Säuglingsalter im Kommunikations­verhalten beobachtbar bevor Kleinkinder Zeigegesten einsetzen. Grundlegende kooperative Momente beinhalten stets eine gewisse Reziprozität, die sich bereits in geteilten Interaktionen zwischen Säugling und (häufiger) der Mutter (als primäre Bindungsperson) nachvollziehen lassen. So beginnt mit dem Beginn des Lebens von Menschen unmittelbar gemeinschaftliches Agieren und gelingendes kooperatives Kommunizieren, welches sich in zehntausenden, unzählbar vielen Situationen im Laufe der (frühen) Kindheit individuell ausprägen wird (vgl. ebd., S. 200ff).

Was haben Tomassellos Ursprünge der menschlichen Kommunikation und Kooperation mit dem Entwicklungsziel „kooperative Kompetenzen“ fördern zu tun?

Aus den oben aufgeführten grundlegenden Erkenntnissen über gemeinschaftliches Sein und gelingendes kooperatives Handeln lassen sich bedeutsame Erkenntnisse für die Erhebung individueller Lernvoraussetzungen in Bezug auf kooperative Kompetenzen von Schüler:innen in Frageform ableiten. Diese Fragen ergänzen das Lernfeld Kooperations­fähigkeit von Schäfer (Abbildung s. u.) in Bezug auf basale Kompetenz­niveaus kooperativen Agierens, d. h., wenn diese Fragen in Bezug auf die individuellen Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schüler noch nicht ausreichend ausgeprägt vorhanden (einsetzbar/nutzbar) sind, kann sonderpädagogische Förderung nicht ausreichend Wirksamkeit auslösen:

  • Sind SuS in der Lage, die jeweiligen kontextspezifischen (oftmals ungeschriebenen) Regeln, Rollen und Normen zu erkennen?
  • Wie sind sie in Bezug auf ihre eigene Biografie sozialisiert? Welche Regeln, Rollen und Normen übernahmen sie in ihren Herkunftsbezügen?
  • Sind SuS eigenständig in der Lage, sich in neuen Kontexten Regeln, Normen und Rollen zu erschließen und kontextspezifisch zu (re)agieren?
  • Sind die aus sich heraus motiviert, neue Regeln, Normen und Rollen anzunehmen?
  • Haben SuS in ihrer vorschulischen Sozialisation die Fähigkeit zur geteilten Intentionalität ausreichend gelingend erleben können und ausdifferenzieren können?
  • Konnten sich in der Kindheit entsprechende soziale-kognitive Fähigkeiten entwickeln?
  • Wurde Reziprozität in kooperativen und gemeinschaftlichen Momenten als positiv erlebt?
  • Können gemeinsame Hintergründe/Kontexte erkannt werden?
  • Kann gemeinschaftliches Tun als mit Sinn gefüllt erkannt werden?
  • Erscheinen SuS adressierbar in Bezug auf gemeinschaftliches Handeln, Helfen, Teilen?
  • Können SuS Hilfen annehmen und einfordern? Altersangemessen?
  • Liegt bereits eine vertrauensvolle und belastbare Beziehung zur Lehrkraft vor?
  • Wie unsicherheitstolerant erscheinen die SuS?

Diese entwickelten Fragen ergründen einen basaleren Bereich kooperativer Kompetenzen und setzen unterhalb des Lernfeldes Kooperation nach Schaefer an:

Literatur

 

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