Wie wirkt sonderpädagogische Entwicklungsförderung? Fehlt sonderpädagogischer Förderung eine Leitlinienkultur zur Orientierung oder wird aus guten Gründen gefördert?

von Alexander Lang

Wie wirkt sonderpädagogische Entwicklungsförderung? Fehlt sonderpädagogischer Förderung eine Leitlinienkultur zur Orientierung oder wird aus guten Gründen gefördert?

Kreisrundes Logo der Homepage

Als Fachleiter in der sonder­pädagogischen Lehrerinnen­ausbildung bin ich durch die vielen Unterrichts­besuche (bis heute > 600) und schriftlichen Planungen eng eingebunden in unzählige spannende Gespräche über die Intention, Schülerinnen und Schülern nicht nur Fachinhalte, sondern auch entwicklungsziel­bezogene Inhalte zu vermitteln. Am Schulvormittag ist sonder­pädagogischer Unterricht ein wesentlicher Bestandteil sonder­pädagogischer Förderung in ES und im Unterricht an sich werden o. g. zusätzliche, entwicklungs­bezogene Ziele, verfolgt. Dies geschieht in der Regel nicht in jeder Unterrichtsstunde des Schultages, es geschieht auch nicht immer gleichartig oder gleichverteilt (z. B. 50:50 Entwicklungsziel-zu-Fachziel-Verhältnis) – aber das Verfolgen dieses „+ X“ ist integraler Bestandteil sonder­pädagogischen Unterrichts. Jöhnck und Baumann benennen dieses sonder­pädagogische Vorgehen: “Die Umsetzung dualen Unterrichts ist ein ebenso unverzichtbares wie vielschichtiges und seit langem diskutiertes Feld in der schulischen Sonderpädagogik.“ (2023, S. 71).

Mir ist komischerweise noch nie so ganz klar gewesen, wie effektiv dieser Teil sonder­pädagogischer Förderung an sich überhaupt ist; im Studium nicht, im Referendariat in Hamburg nicht und auch nicht in meiner langjährigen Tätigkeit als Lehrkraft und Fachleitung. Ich kenne „Lubo aus dem All“ (Hövel und Hennemann 2016) und setzte dies auch in meinen Klassen um und erlebte die diesem Training zu Grunde liegenden Effekte mal mehr und mal weniger – vor allem aber bemerkte ich, dass ich kaum eine dieser Trainingsstunden genau so durchführen konnte, wie es das Manual und die Materialien vorsahen. War mein Handeln dann noch so effektiv, wie das Training entwickelt wurde? Darf/kann ich einzelne Elemente des Trainings zum Emotionsvokabular völlig losgelöst von Lubo einsetzen? Und ist das dann immer noch wirksam? Lubo steht hier nur stellvertretend für viele Trainingsprogramme aber auch für das sonder­pädagogische Fördern durch klassisches Rückgreifen auf einzelne Entwicklungsbereiche, in denen Schülerinnen und Schüler teilweise größere Lernbarrieren aufwiesen (bzw. ich sie dort vermutete und sonder­pädagogische Förderung diese Lernbarrieren minimieren sollte oder im besten Fall keine weiteren Barrieren nach dem Fördern beobachtbar sein sollten). Meine (und die meiner Teamkolleginnen und -kollegen) in der Folge getätigten Beobachtungen ließen manchmal positive Veränderungen bei Schülerinnen und Schüler zu – manchmal (und leider gar nicht so selten) aber waren keine wirklichen positiven Entwicklungen zu beobachten. Häufig wünsch(t)e ich mir, es gäbe eine Art Fachbuch, in dem ich zu allen Bereichen, die Lernbarrieren aufweisen können oder die das Leben an sich außerhalb von Schule erschwerten und von mir in der Person des Schülers vermutet werden, gesammelt aufgelistet wären und ich nachschlagen könnte, wie ich z. B. Schülerinnen ermöglichen kann, mehr Selbstwirksamkeit zu empfinden und Herausforderungen mit einer positiveren Selbstwirksamkeitserwartung anzugehen. Oder wie man Schülerinnen und Schüler dabei begleitet, ein realistischeres Selbstkonzept in Gänze aber z. B. vor allem in Mathematik oder Englisch fachspezifisch zu entwickeln. Oder wie sie in emotionalen Situationen besser (und auch außerhalb des Klassenraumes) Ruhe bewahren und nicht so schnell „aus der Haut fahren“ und sich nicht so schnell provozieren lassen.

Diese Aufzählung könnte ich über viele Seiten führen – toll wäre, wenn es für ES eine Übersicht gäbe, der ich entnehmen könnte, was ich wie und wie erfolgreich in welchem Alter fördern kann und wie zeitig sich beobachtbare Entwicklungserfolge einstellen oder wie umfänglich Entwicklungsprobleme überhaupt zu fördern sind: ist nach dem Fördern für meine Schülerinnen und Schüler in dem Bereich eine altersgemäße Normalität überhaupt erreichbar und erstrebenswert?

Vielen dieser Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Dieser Blogbeitrag stammt einem Manuskriptentwurf für eine Veröffentlichung, fand aber den Weg nicht in das Werk. Ich finde die Gedanken aber so lesenswert, dass ich ihn hier veröffentliche:

Wirksame Trainingsprogramme liegen vor - können Sie ohne Wirkverlust und Modifikation zur unterrichtsimmanenten Entwicklungs­förderung eingesetzt werden?
Hennemann et al. geben eine einmalig umfangreiche Übersicht von in ihrer Wirksamkeit bestätigten Trainingsprogrammen zur präventiven Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen vom Vorschulalter bis in den Sekundarstufe I Bereich. Neben der Überprüfung auf Signifikanz werden auch die förderbaren Bereiche der sozialen und emotionalen Kompetenzen angegeben (vgl. 2015, S. 99-144). Das Problem aus Sicht des Autors bei diesen fertigen Trainingsprogrammen ist einerseits, dass sie ohne Adaption in kaum einer Lerngruppe durchgeführt werden können: die didaktisch-methodische Vorgehensweise erscheint teilweise unrhythmisiert monoton, wahlweise einzelarbeitslastig oder kognitiv und kooperativ zu anspruchsvoll, sodass die vielen Anpassungen die Frage aufwerfen, ob das jeweilige Training modifiziert immer noch die intendierte Wirksamkeit erbringen kann, denn als Wirkeffekte lassen sich für viele derartige Trainingsprogramme eher schwache oder mittlere Effektstärken nachweisen (z. B. für „Lubo aus dem All“ vgl. Hens 2007, S. 167ff oder für „Verhaltenstraining in der Grundschule“ vgl. Blumenthal und Mahlau 2015, S. 416/417, Ergebnisse einer großen Metaanalyse über 213 Studien zur Förderung social emotional learnings (SEL) vgl. Leidig 2019, S. 60ff).

Andererseits erscheinen diese Trainings (Ausnahmen gibt es aber sie bilden meiner Einschätzung nach eben die Ausnahme und nicht die Regel, z. B. Ben und Lee von Urban et al. 2018) als entweder nicht oder nicht angemessen gut didaktisch für eine unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung im Klassenraum konzipiert, denn durch die Psychologie lastige Konzeptionierung dieser Trainings wird bisher nicht der Hauptfokus auf eine Verknüpfbarkeit mit Fachunterricht im Klassenkontext gelegt und dieser Kontext erscheint dem Autor als die eigentliche Herausforderung: Lang rekurriert 2024 auf Oser, der so weit geht und sagt: „ dass es in Wirklichkeit gar keine Linearität in der Umsetzung von vorher Geplantem geben kann und spricht von Unterrichten als Emergency-Room-Gegebenheit: „Ein Kind kann nicht folgen, ein anderer stört, einige vergessen ihr Buch, verlieren das Material, sind innerlich abwesend, sind unterschiedlich motiviert, ein Medium funktioniert nicht, ein Baukran vor dem Schulzimmer stört etc. Die Lernsituation des Klassenzimmers gebärdet sich als Kontigenzbewältigungsfalle“ (Oser 2000 nach Lang, S. 32/33): das Vorhaben, die Komplexität von Unterricht durch eine zweite Zielebene der unterrichtsimmanenten Entwicklungs­förderung zu erhöhen, sollte unbedingt durch eine eigene Didaktik der Entwicklungs­förderung im Sinne Jöhncks und Baumanns (2023) gestützt werden: Diese Lücke könnte zukünftig von einer Didaktik der Entwicklungs­förderung geschlossen werden - und umgekehrt sollte zukünftig (mehr) Raum für eine systematische Realisierung dieser universalpräventiven o. g. Trainingsprogramme, insbesondere in Grundschulen, eingeräumt werden, denn der systematische und vor allem möglichst frühe Einsatz können  spätere sonder­pädagogische Förderung (wait-to-fail-Problematik) mit verhindern (vgl. Stein und Müller 2018, 122f).

Wie verteilt sich die Wirksamkeit von zwei Zielebenen von Unterricht?

Die o. g. Trainingsprogramme sind häufig zur ausschließlichen Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen entwickelt worden - eine besondere Herausforderung der Planung sonder­pädagogischer unterrichtsimmanenter Entwicklungs­förderung ist allerdings, ein situativ und in Bezug auf die Lerngruppe angemessenes Verhältnis zwischen den beiden Zielbereichen (Fach- und Entwicklungszielbezug) in ihrer Wirksamkeit herzustellen. Der Autor sieht in Bezug auf vier Szenarien folgende Herausforderungen, denen didaktisch noch nicht ausreichend systematisch begegnet wird:

  • Wird zu unterrichtsimmanent, mit zu großer Fokussierung auf fachliche Komplexität geplant, besteht die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht gleichermaßen, nicht simultan für die entwicklungsziel­bezogene Zielverfolgung nutzen können. Ungünstigsterweise verpufft dann sowohl die Lernwirksamkeit für die fachlichen Ziele zusätzlich zur wirkungslosen Entwicklungszielverfolgung.
  • Durch eine unreflektierte Fachfokussierung findet bereits in der Planung keine angemessen komplexe Gestaltung einer Entwicklungs­förderung statt: es droht nun eine Trivialität im Entwicklungszielbereich (Beispiele aus der anekdotischen Evidenz seiner Tätigkeit als Fachleiter wären z. B. die Entwicklungsziele „Zuverlässig sein“ im Mathematikunterricht oder „Leise reden“ im Deutschunterricht zu verfolgen oder die gar nicht so selten vorkommende Verwechselung von „fördern“ mit „einfordern“ von Tätigkeiten oder Verhaltensweisen, anstatt ein didaktisches Setting zu generieren, welches im Sinne der Zone der nächsten Entwicklung noch nicht etabliertes Verhalten mit Unterstützung in sinnvollen Bezügen ermöglicht). An anderer Stelle formuliert der Autor diesbezüglich die Frage, ob es eine Schöpfungshöhe sonder­pädagogischer Förderung gibt (vgl. Lang 2019) - wohl wissend, dass es unterschiedliche Einschätzungen hierzu geben kann.
  • Eine zu starke Fokussierung des Entwicklungszielbereichs kann fachliches Lernen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler (analog zu 1) erschweren und Wirksamkeit verhindern.
  • Eine zu große Fokussierung auf Entwicklungszielbereiche vernachlässigt in der Planung fachlich anspruchsvollen Unterricht; Lehrkräfte erwarten in bestimmten Lerngruppen gar keine Lernwirksamkeit eines hochwertigen Fachunterrichtsmehr und unterlassen angemessene Planungsgedanken.

Probleme einer klassischen Evidenzbasierung zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen

Casale et al. stellen fest, dass tradierte wissenschaftliche Maßstäbe der Evidenzbasierung der Nachbardisziplinen Medizin und Psychologie nur sehr schwierig in sonder­pädagogischen Handlungsfeldern angewandt werden können: Solche Konzepte legen verschiedene Niveaustufen der Evidenzbasierung fest, mittels derer die Qualität der wissenschaftlichen Wirksamkeitsüberprüfung erfolgt und nachgewiesen wird. Als sogenannter „Goldstandard“ gelten vollständig randomisierte Kontrollgruppenstudien (Oxford Centre for Evidence-Based Medicine, 2011). Deren Umsetzung ist jedoch in der pädagogischen Feldforschung aus verschiedenen Gründen nahezu unmöglich. Zum einen finden Bildung und Erziehung in Deutschland in der Regel in festen Lerngruppen (z. B. in Kita, Schule etc.) statt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014), so dass eine Herauslösung und Durchmischung der einzelnen Kinder und Jugendlichen - wie bei vollständig randomisierten Forschungsdesigns gefordert – nicht realisierbar (und pädagogisch auch nicht sinnvoll) ist.

Zum anderen stellt die Heterogenität der Zielgruppe (also Kinder bzw. Jugendliche. und deren unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsausgangslagen) eine Herausforderung für standardisierte forschungsmethodische Designs dar (Haeberlin, 2003). Darüber hinaus dauert es mindestens mehrere Monate, um solche hochwertigen Studien umzusetzen. Des Weiteren sagt die durch randomisierte Kontrollgruppenstudien nachgewiesene Effektivität einer Fördermethode nichts über deren jeweilige Wirksamkeit im konkreten Einzelfall aus (Klauer, 2002). Daher bedarf es einer Anpassung und Neuentwicklung wissenschaftlicher Standards einer Evidenzbasierten Sonderpädagogik, die diesen Aspekten gerecht werden.
(2015, S. 325/ 326).

Ob evidenzbasierte Wirksamkeit sonder­pädagogischer Entwicklungs­förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen im konkreten Einzelfall alleinig auf ein Geschehen von durchschnittlich fünf Zeitstunden am Vormittag rückführbar ist, erscheint dem Autor zudem als durchaus beachtenswerte Größe, der er in Bezug auf ausbleibende Lern- und Entwicklungseffekten (i. S. v. nicht erfolgreich sein) nachgeht (vgl. Lang, 2024, S. 27ff). Dementsprechend müssten zusätzliche Studien ein Design umfassen, welches im Sinne des Konzeptes SEL (social emotional learning) auch den außerschulischen Bereich systematisch sowohl komplementär in die unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung als auch in die Überprüfung der Wirksamkeit miteinbezieht, wie es Leidig 2019 ausführlich in der Darstellung des Konzepts SEL zur Entwicklungs­förderung beschreibt (vgl. S. 60ff).

Casale et al. zitieren Odem, der bereits vor zwei Jahrzehnten die beinahe Unmöglichkeit der Evidenzbasierten Forschung im sonder­pädagogischen Feld wie folgt beschrieb: „Special education research, because of its complexity, may be the hardest of the hardest-to-do science. One feature of special education research that makes it more complex is the variability of the participants.” Weiter heißt es: „Researchers cannot just address a simple question about whether a practice in special education is effective; they must specify clearly for whom the practice is effective and in what context” (Odom 2005 nach Casale et al. 2015, S. 327). Sie führen weiter aus, dass „die Komplexität in der sonder­pädagogischen Forschung ist dafür mitverantwortlich, dass derzeit nur eine begrenzte Anzahl an konkreten pädagogischen Maßnahmen als evidenzbasiert bezeichnet werden kann und dass es nahezu unmöglich sein wird, praktische evidenzbasierte Methoden für alle Kinder und Jugendlichen in allen Lern- und Verhaltensbereichen zeitnah bereitzustellen (vgl. Casale et al. 2015, S. 327).

Evidenzbasierte Förderung durch Rückgriff auf Erkenntnisse, die noch nicht nach hochwertigen wissenschaftlichen Standards evaluierbar sind
Dieses Resümee ziehen die o. g. Autoren und zeigen explizit zwei Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 327) auf, die zukünftig von einer Didaktik der Entwicklungs­förderung aufgegriffen im o. g. Jöhnckschen und Baumannschen Sinne werden sollten. Die dritte Möglichkeit ergänzt der Autor dieses Beitrages:

  • Es müssen praktisch erprobte Maßnahmen für verschiedene Lern- und Verhaltensbereiche systematisch auf Evidenz untersuch werden.
  • Es müssen zukünftig Evaluationsmöglichkeiten entwickelt und bereitgestellt werden, die eine individuelle, situative und alltagstaugliche Überprüfung des Erfolgs unterrichtsimmanenter Entwicklungs­förderung ermöglichen.
  • Es sollten systematisch praktische Beispiele für unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung veröffentlicht und dem Fachdiskurs zugänglich gemacht werden. Diese könnten zum Beispiel auf Schriftlichen Planungsleistungen von Auszubildenden des sonder­pädagogischen Lehramts entstehen, die in Kooperation mit den Fachleitungen und universitär Lehrenden diskutiert und erstellt werden.


Durch die Umsetzung dieser Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und dem Gewinnen von Erkenntnissen über die Wirksamkeit, Wirkeffekte und Überprüfbarkeit sonder­pädagogischer unterrichtsimmanenter Entwicklungs­förderung entstünde ein wertvoller Fundus für den öffentlichen Fachdiskurs, die Ausbildungsqualität und des ließen sich Bereiche isolieren und benennen, die nachgewiesenermaßen auch unterrichtsimmanent überprüfbar gefördert werden können. Blumenthal und Mahlau beschreiben in „Effektiv fördern – Wie wähle ich aus? Ein Plädoyer für die evidenzbasierte Praxis in der schulischen Sonderpädagogik“ (2015, S. 408ff) ein mögliches Konzept zum praktischen Vorgehen in Bezug auf eine hilfreiche Einschätzung der Wirksamkeit für sonder­pädagogische Förderung. Die Autorinnen entwickeln in ihrem Konzept ein Stufenkonzept, welches zeitökonomisch und für in der Praxis tätige Lehrkräfte anzuwenden ist. Casales et al. und Blumenthal und Mahlaus Ausführungen bilden eine fundierte Basis, die von einer oben erwähnten Didaktik der Entwicklungs­förderung unbedingt aufgegriffen werden sollte.

Sind sonder­pädagogische Leitlinien für eine unterrichts­immanente Entwicklungs­förderung denkbar?
Entstehen könnte ein analoges sonder­pädagogisches Konstrukt zu den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Dieser Auszug ist den Leitlinien zur Unipolaren Depressionen entnommen und zeigt auf, welche Chancen der Autor in dieser Art der Wirksamkeitsbeschreibung sieht: Bei depressiven Störungen ist der Effekt einer Psychotherapie zum großen Teil nicht auf für das jeweilige Verfahren spezifische Faktoren zurückzuführen, sondern auf unspezifische, schulen- bzw. verfahrensübergreifende Wirk- und Einflussfaktoren. Diese Faktoren im therapeutischen Prozess zu berücksichtigen, trägt aus Sicht der Leitliniengruppe wesentlich zum Erfolg einer Therapie bei. Die in Tabelle 33 und Tabelle 34 genannten Wirk- und Einflussfaktoren stammen zwar aus der Psychotherapie-Forschung, sind aber prinzipiell für alle gesprächsbasierten Interventionen im Kontext depressiver Störungen relevant. (…). Übereinstimmende Befunde aus der Psychotherapieforschung zeigen, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung zu den wichtigsten, wenn auch komplexen Wirk- und Einflussfaktoren eines gelingenden psychotherapeutischen Prozesses gehört. Sie zählt zu den sogenannten allgemeinen Wirkfaktoren, in Abgrenzung zu den spezifischen Wirkmechanismen der einzelnen Verfahren. Darüber hinaus zeigt die Psychotherapie-Prozessforschung der letzten 20–30 Jahre z. B. die Bedeutsamkeit von emotions­bezogenen Interventionen, von Affektfokussierung, der Einsicht in ungünstige Beziehungs­muster sowie der Utilisierung von selbstorganisierten Lösungs- und Veränderungsimpulsen. Sehr wichtig ist weiterhin die Bedeutung der Kommunikation über die therapeutischen Ziele und Aufgaben aller Beteiligten und ggf. die diesbezügliche. Übereinstimmung bzw. der Konnotierung von Diversität diesbezüglich als Ressource. Zudem spielt die Persönlichkeit der Psychotherapeut*innen eine Rolle. Hier sind insbesondere Empathiefähigkeit, Akzeptanz und unterstützende Haltung, Flexibilität und gute Selbstregulation/-reflektion belegte positiv wirksame Merkmale.“ (AWMF 2022, S. 85).

Ein Teilbereich der erwähnten Didaktik der Entwicklungs­förderung sollte eine o. g. Wirksamkeits­forschung hinsichtlich sonder­pädagogischer Entwicklungs­förderung fachrichtungs­übergreifend etablieren und analog zu den AWMF Leitlinien z. B. die komplexen Wirk- und Einflussfaktoren des Entwicklungs­förderungsprozesses, die allgemeinen (z. B. Beziehung zwischen Schülerin, Schüler und Lehrkraft) und spezifischen Wirkfaktoren (z. B. konkrete unterrichts­immanente entwicklungs­bereichs­bezogene Förderung) erstens überhaupt, und zweitens besser identifizieren und zur Umsetzung zielgerichteter planbar zu machen. Für die weiter oben festgestellten (noch oder) nicht evidenz­überprüfbaren Wirkweisen, Bereiche und Anteile sonder­pädagogischer unterricht­simmanenter Entwicklungs­förderung könnten beispielsweise zusätzliche Kategorien eingeführt werden, wie:

  • heuristisch hergeleitete beispielhafte Settings aus der sonder­pädagogischen Unterrichtspraxis mit theoriegeleiteten Bezugssystemen und
  • unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung aus guten Gründen.

Letztere Kategorie bezöge auch ohne umschreibbare Wirksamkeitserklärungen oder -feststellungen in der Fachrichtung Emotionale und soziale Entwicklung ihre Berechtigung insbesondere aus der Tatsache, dass es niemand anderes versucht, diese Schülerinnen und Schüler in ihren akut hochbelasteten Lebenssituationen und behinderungsbedingt zukünftig erwartbaren hohen (Entwicklungs-)Risiken in Bezug auf gesellschaftliche Partizipation, individuell mögliche Bildungschancen, psychischer Gesundheit, sozialem Status, individuellem Lebensglück und dem daraus resultierenden individuellen Leidensdruck zu erreichen. sonder­pädagogische Entwicklungs­förderung bleibt auch für diese Zielgruppe zuständig und fördert auch aus „nur“ guten Gründen!

Der Diskurs, ob Evidenzbasierung in der sonder­pädagogischen Förderung zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit erfährt, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Als nachdenkliche Stimmen seien aber die kritischen Impulse Dederichs erwähnt, der thesenartig hypothetisiert, dass die starken Tendenzen zu einer evidenzbasierten wissenschaftlichen Sonderpädagogik den Zweck von (Selbst-)Wirksamkeitserleben und mehr wissenschaftlicher Legitimation erfüllen - in einer Zeit von Selbstzweifeln einer Disziplin, die durch Inklusionsprozesse ausgelöst werden (2017, S. 26f). Unabhängig von einer inhaltlichen Positionierung in diesem Diskurs lässt sich feststellen, dass die Grundlage für bewusste planerische didaktische Entscheidungen für eine sonder­pädagogische unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung aktuell noch nicht ausreichend theoretisch fundiert erscheinen, bisher oft keine gesichert theoriegeleitete Entscheidung getroffen werden kann, ob

  • evidenzbasiert,
  • aufgrund heuristisch schlüssiger Herleitungen und auf Basis veröffentlichter theoriegeleiteter Planungsbeispielen,
  • aus guten Gründen oder
  • aus einer Melange dieser Möglichkeiten unterrichtsimmanente Entwicklungs­förderung umgesetzt wird:

Tabelle 1: Mögliche Leitlinieneinschätzung zur Wirksamkeit unterrichtsimmanenter Entwicklungs­förderung

[1] vgl. Casale et al. 2015 oder Stufenmodelle nach Blumenthal und Mahlau 2015
[2] Diese Ebene wird dauerhaft notwendig sein, siehe ebd. 2015, S. 327: „nur eine begrenzte Anzahl an konkreten pädagogischen Maßnahmen als evidenzbasiert bezeichnet werden kann und dass es nahezu unmöglich sein wird, praktische evidenzbasierte Methoden für alle Kinder und Jugendlichen“ zu entwickeln (Anm. d. V.)“

Literatur
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2022):
Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, Version 3.0., Letzter Zugriff am 26.07.2024: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-005.html.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014):
Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld: Bertelsmann.
Blumenthal, Yvonne und Mahlau, Kathrin (2015):
Effektiv fördern – Wie wähle ich aus? Ein Plädoyer für die Evidenzbasierte Praxis in der schulischen Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heilpädagogik 66, S. 408-421
Casale, Gino, Hennemann, Thomas, Grosche, Michael (2015): Zum Beitrag der Verlaufsdiagnostik für eine evidenzbasierte sonder­pädagogische Praxis am Beispiel des Förderschwerpunkts der emotionalen und sozialen Entwicklung. Zeitschrift für Heilpädagogik 66, S. 325-334.
Dederich, Markus (2022): Zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik – Versuch einer Standortbestimmung. In: Laubenstein Desireé und Scheer, David: Perspektiven sonder­pädagogischer Forschung. Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik. Bad Heilbrunn, Klinkhardt. S. 23-40.
Haeberlin, U. (2003). Wissenschaftstheorie für Heil- und Sonderpädagogik. In A. Leonhardt & F. B. Wember (Hrsg.) (2007): Grundfragen der Sonderpädagogik, Bildung –Erziehung – Behinderung . Weinheim: Beltz.
Hasselhorn, Marcus und Schneider, Wolfgang: Handbuch der Entwicklungspsychologie. Göttingen, Hogrefe. S. 58–80.
Hennemann, Thomas, Hövel, Dennis, Casale, Gino, Fitting-Dahlmann, Klaus (2015):
Schulische Prävention im Bereich Verhalten, Reihe Fördern lernen - Prävention, Band 19, Hg. Stephan Ellinger, Kohlhammer.
Hens, Sonja (2009): Prävention von Verhaltensstörungen - Entwicklung, Durchführung und Evaluation eines universellen Trainingsprogramms zur Förderung der sozial-emotionalen Kompetenzen in der Eingangsstufe. Dissertation. Letzter Zugriff am 22.07.2024: https://kups.ub.uni-koeln.de/3274.
Hövel, Dennis und Hennemann, Thomas (2016):
Effektive Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen in der Grundschule mit Lubo aus dem All! Internet: Potsdamer Zentrum für empirische Inklusionsforschung (ZEIF), 2016, Nr. 2, letzter Zugriff am 27.07.2024.
Jöhnck, Johannes und Baumann, Simon (2023): Zur systematischen didaktischen Konzeptualisierung dualen Unterrichts: Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der unterrichtsimmanenten Entwicklungs­förderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 74, S. 64-74..
Lang, Alexander (2019): Wie finden und ergeben sich sonder­pädagogische Förderziele für den Prozess der sonder­pädagogischen Förderung in ES? 21.07.2024: https://www.dasistes.info/news/wie-finden-und-ergeben-sich-sonderpaedagogische-foerderziele.html. Letzter Zugriff am 21.07.2024.
Lang, Alexander (2024): Souverän unterrichten bei schwierigem Verhalten. Hamburg, Persen.
Leidig, Tatjana (2019): Wie kann es gelingen? - Professionalisierung von Lehrkräften auf dem Weg zum inklusiven Schulsystem unter besonderer Berücksichtigung prozessbegleitender Fortbildungsangebote. Dissertation, Universität zu Köln.
Odom, Samuel, Brantlinger, Ellen, Gersten, Russel, Horner, Robert, Thompson, Bruce and Harris, Karen (2005): Research in Special Education: Scientific Methods and Evidence-Based Practices. Exceptional Children, 71, S. 137–148.
Oxford Centre for Evidence-Based Medicine (OCEBM) Levels of Evidence Working Group (2011):
The Oxford 2011 Levels of Evidence. Internet: www.cebm.net/index.aspx-?o=5653, letzter Zugriff am 30.07.2024.
Stein, Roland und Müller, Thomas (2018): Inklusion im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.
Urban, Mareike, Hövel, Dennis, Hennemann, Thomas (2018):
Ben & Lee 3. und 4. Klasse. Programm zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in Verbindung mit fachlichen Zielen des Deutsch- und Sachunterrichts. hpa edition.

Dieser Text ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen. Bei Nutzung, auch von Auszügen, ist eine Autorennennung mit Quellenangabe nötig. www.dasistes.info, Alexander Lang 2024

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben